Tilmann Haberer

Sex & Gott & Rock'n'Roll


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      Eigentlich fühlte er gar nichts.

      Das Loch in seinem Bauch war wohl einfach nur Hunger. Es war halb sechs, seit dem Frühstück hatte er nichts mehr gegessen. Hunger, aber nicht den geringsten Appetit. Hannes konnte sich kaum vorstellen, jemals in diesem Leben wieder etwas zu essen, etwas so Normales zu tun wie eine Mahlzeit zu sich zu nehmen.

      Jeannie.

      Unwillig schüttelte er den Kopf. Jeannie war weiß Gott wo. Und überhaupt, er hatte vor gerade mal zweieinhalb Stunden seine Frau verlassen und dachte schon an die nächste.

      Quatsch, Jeannie wäre niemals die Nächste. Er wollte nur mit ihr reden. Sie würde ihm zuhören, würde ihn verstehen. Aber er hatte keine Ahnung, wo sie war, keine Telefonnummer, keine Adresse. Wusste nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebte.

      Irgendwann verließ er dann doch das Zimmer, lief ziellos durch die Straßen, gab schließlich dem Hungergefühl nach. Setzte sich irgendwo hinein, bestellte eine Pizza und ein Weißbier, die Pizza schmeckte nach Pappe und das Bier stieg ihm in den Kopf, er hatte viel zu schnell getrunken. Trotzdem bestellte er ein zweites. Was sollte er auch sonst tun!

      Dieser Drang, mit irgendjemand zu reden! Und gleichzeitig wollte er niemand sehen. Konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder ein normales Gespräch zu führen.

      Jeannie. Sie wäre die Einzige. Aber sie war nicht da.

      Später, während er sich auf der ausgeleierten Matratze wälzte, kein Gedanke an Schlaf, überfielen ihn die Schuldgefühle. Die Kinder waren jetzt schon im Bett. Er hatte ihnen nicht vorgelesen, ihnen keinen Gutenachtkuss gegeben. In seinem Herzen klaffte ein Riss. Wann würde er sie überhaupt wiedersehen?

      Und zur selben Zeit wusste er, dass er nicht anders konnte. Es war zu Ende. Gabi hatte gewonnen. Und ihm blieb nichts. Nichts.

      ***

      Simon kam auf die nahe liegende Idee. „Komm, wir fahren zu Hin und mit, holen ein Schlafsofa und stellen es in dein Büro. Das ist groß genug. Wir haben hier ja sogar eine Dusche.“ Die hatten sie zwar nie benutzt, aber Simon hatte Recht.

      Also fuhr er mit Simon ins Möbelhaus und kaufte ein Schlafsofa, holte seine Reisetasche aus der Pension und zog in sein Büro ein. Die Matratze war besser, aber Schlaf fand er trotzdem kaum. Immer wieder dieses Gefühl, alles sei falsch. Und dann wieder die Gewissheit, dass es nicht mehr anders ging. Er hatte es wirklich versucht. Sechs Jahre lang. Jede Minute vermisste er Lukas und Judith; Gabi vermisste er nicht. Nach drei Tagen begann sich die Schockstarre etwas zu lockern, er konnte anfangen nachzudenken. Er brauchte seine Sachen. Hatte ja alles in der Wohnung gelassen.

      Am Freitag nahm er sich frei, mietete sich einen Kleintransporter und fuhr zu seiner alten Wohnung, um seine Sachen zu holen, in der Hoffnung, dass Gabi nicht seinen gesamten Besitz auf den Müll geworfen hatte. Der Schlüssel sperrte nicht. Ratlos stand er vor der verschlossenen Tür.

      Ihm blieb nichts anderes übrig, als am Nachmittag anzurufen. Gabi war wortkarg und schnippisch, aber – o Wunder – sie ließ sich darauf ein. Morgen, am Samstag, könne er kommen.

      Simon hatte angeboten, ihm zu helfen. Als sie vor der Tür der Wohnung standen, in der er sechs Jahre gelebt hatte, in der seine Kinder groß wurden, packte ihn um ein Haar das heulende Elend. Doch immer noch wusste er, dass es richtig war. Dass er keine andere Chance hatte, wenn er nicht ganz untergehen wollte. Ich will mein Leben wiederhaben, wenigstens etwas davon.

      Auch Gabi war nicht allein. Sie hatte Nadine und Edda als Sekundantinnen geholt. Die Kinder waren nirgends zu sehen. „Sind bei den Großeltern“, erklärte Gabi tonlos und meinte damit selbstredend ihre Eltern. Sie sah grau und müde aus, wahrscheinlich hatte sie auch nicht viel geschlafen. Eigentlich komisch. So wie sie ihn behandelt hatte, musste sie doch froh sein, ihn endlich los zu sein. Aber natürlich war auch ihr Lebensmodell zusammengebrochen. Egal, nicht mehr mein Problem. Bei diesem Gedanken kam er sich vor wie ein Schuft und gleichzeitig lag darin die Befreiung. Er war nicht mehr verantwortlich. Für Gabi jedenfalls nicht. Und für die Kinder… da stand ihm wohl noch ein Kampf bevor.

      Nadine folgte ihm auf Schritt und Tritt und beobachtete jede seiner Bewegungen. Ging auch mit in den Keller, stand wie der Zerberus in der Tür. Fehlt nur noch die Kalaschnikow.

      „Nadine, du nervst“, knurrte er schließlich unwillig, als sie über seine Schulter kontrollierte, wie er seine Winterstiefel aus dem Schuhschrank zusammensuchte. „Ich werde Gabis Pumps nicht einpacken.“ Nadine antwortete gar nichts, goss nur ihren verächtlichsten Blick über ihn aus. O Mann, was muss Gabi über mich erzählt haben…

      Hannes packte nur seine Bücher, die Stereoanlage und die Schallplatten ein, seinen alten Vox-Verstärker, Klamotten und Schuhe. Allen Hausrat ließ er Gabi, er hätte sowieso nichts damit anzufangen gewusst. Die meisten Sachen musste er erst einmal in Augsburg unterbringen, bei seinen Eltern auf dem Dachboden.

      Seine Mutter hatte fast erleichtert gewirkt, als er ihr vor drei Tagen am Telefon von seinem Auszug erzählt hatte. Obwohl er immer vermieden hatte, sich über Gabi auszulassen, hatte sie natürlich mitbekommen, dass es ihrem Sohn nicht gut ging. Mutterinstinkt. „Und wie macht ihr das mit den Kindern?“, wollte sie nur wissen.

      „Gute Frage.“ Klar war, dass er das Sorgerecht behalten würde, das konnte Gabi ihm nicht nehmen. Und das bedeutete, dass er die Kinder regelmäßig sehen würde. „Ich hoffe, Gabi legt dir nicht allzu viele Steine in den Weg“, hatte die Mutter gesagt.

      Natürlich trog diese Hoffnung. Er musste das Jugendamt einschalten, das Familiengericht, um durchzusetzen, dass er die Kinder jedes zweite Wochenende zu sich holen konnte. Da hatte er dann schon seine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung gefunden, ein Wohn-Arbeitszimmer, ein Kinderzimmer, ein Kämmerchen für Bett und Kleiderschrank. Den ganzen Hausrat musste er neu anschaffen, ließ alles in allem fast zweitausend Mark bei Ikea. Seine Eltern mussten ihm dabei unter die Arme greifen, nach dem Unterhalt, den er Gabi zahlen musste, blieb ihm nicht mehr viel.

      Als er die Kinder zum ersten Mal holen konnte, hatte er sich halbwegs gemütlich eingerichtet. Die Kinder fremdelten am Anfang stark. Es brauchte etliche Wochenenden, um das Vertrauen einigermaßen wiederherzustellen; Gabi hatte ihnen gesagt: „Euer Papa hat euch nicht mehr lieb.“ Von allen Schlägen, die er von ihr einzustecken hatte, tat dieser am meisten weh. Aber er war entschlossen, es nicht mit gleicher Münze heimzuzahlen. Er wollte die Kinder aus dem Konflikt zwischen ihren Eltern heraushalten, so gut es ging, aber manchmal musste er sich fast die Zunge abbeißen.

      Und nun sollte er sie also ganz übernehmen. Das bedeutete einerseits Freude und Genugtuung pur, andererseits die Frage: Wie soll das gehen? Auf Dauer konnten sie zu dritt kaum in seiner kleinen Wohnung hausen. Das ganze Wochenende dachte er darüber nach, und beim Abspülen nach dem Mittagessen am Sonntag stand ihm mit einem Schlag die Lösung glasklar vor Augen: Wenn Gabi für mindestens zwei Jahre wegging, würde er wieder in die Familienwohnung ziehen. Seine Zweieinhalb-Zimmer-Klause würde er kündigen. Und wenn Gabi nach zwei Jahren zurückkam? Dann würde sie sich umsehen müssen. Wenn er die Kinder ganz übernehmen sollte, dann wirklich ganz und nicht nur vorübergehend. Das musste er Gabi klarmachen. Ganz oder gar nicht. Gar nicht kam nicht infrage, die Schwiegermutter war keine Option. Also ganz. Mit allen Konsequenzen. Er würde seine Arbeit auf Teilzeit reduzieren müssen. Finanziell würde es nicht einfach werden, aber anders ging es nicht. Und wenn Gabi wieder zurückkommen sollte, müsste sie eben ganz arbeiten und ihm den Kindsunterhalt zahlen.

      Gabi kam erst am Sonntag spät nachts aus Wuppertal nach Hause. So brachte er am Montag Lukas in die Schule, Judith in den Kindergarten, nahm sich den Nachmittag frei. Holte die Kinder wieder ab, ging mit ihnen eine Pizza essen und fuhr dann zur Wohnung, die auch einmal seine Wohnung gewesen war. Er klingelte unten an der Haustür wie immer, aber diesmal ließ er die Kinder nicht allein hochgehen, wartete nicht, bis Lukas dreimal auf den Türöffner drückte. Er ging mit hoch. Stand auf einmal in der Wohnung, die noch genauso roch wie vor zwei Jahren, als er ausgezogen war. Der Flur, die Bilder an der Wand, das Chaos an der Garderobe – alles so vertraut.

      Nur als Gabi um die Ecke kam,