bist ja auch in allem anderen so freundlich zu uns, Papa, und du machst freundliche Zugeständnisse an Magdalens Ausgelassenheit – ist es nicht so?“, sagte die ruhige Norah und ergriff damit die Partei ihres Vaters und ihrer Schwester; an der Oberfläche ließ sie dabei so wenig Entschlossenheit erkennen, dass nur die wenigsten Beobachter scharfsinnig genug gewesen wären, dahinter den echten Gehalt zu erkennen.
„Ich danke dir, mein Liebes“, sagte der gutmütige Mr. Vanstone. „Ich danke dir für deine sehr hübsche Rede. Und was Magdalen angeht“, fuhr er fort, wobei er sich an seine Frau und Miss Garth wandte, „sie ist ein ungezähmtes Fohlen. Lasst sie auf der Koppel umhertollen und ausschlagen, wie es ihrem Herzen entspricht. Es ist noch Zeit genug, ihr den Zaum anzulegen, wenn sie ein wenig älter ist.“
Die Tür öffnete sich, und Magdalen kam mit dem Schlüssel zurück. Sie öffnete die Posttasche auf der Anrichte und schüttete die Briefe auf einen Haufen. Fröhlich hatte sie in noch nicht einmal einer Minute die Umschläge sortiert. Sie kam mit vollen Händen an den Frühstückstisch und verteilte die Briefe mit der geschäftsmäßigen Schnelligkeit eines Londoner Postboten.
„Zwei für Norah“, verkündete sie und fing bei ihrer Schwester an. „Drei für Miss Garth. Für Mama keiner. Einer für mich. Und die anderen sechs alle für Papa. Du fauler alter Schatz, du beantwortest doch nicht gern Briefe, oder?“, fuhr Magdalen fort, wobei sie die Rolle des Postboten ablegte und wieder die der Tochter annahm. „Da wirst du in deinem Arbeitszimmer wieder maulen und herumzappeln! Und du wirst dir wünschen, es gäbe auf der ganzen Welt keine Briefe! Und wie rot wird dein alter Kahlkopf auf der Oberseite werden, wenn du dich bemühst, die Antworten zu schreiben“ Das Bristol Theatre ist geöffnet, Papa“, flüsterte sie ihrem Vater plötzlich verschmitzt ins Ohr; „das habe ich in der Zeitung gelesen, als ich in die Bibliothek gegangen bin und den Schlüssel geholt habe. Gehen wir doch morgen Abend hin!“
Während seine Tochter noch plapperte, sah Mr. Vanstone mechanisch seine Briefe durch. Die ersten vier drehte er nacheinander um und blickte achtlos auf die Adressen. Als er zum fünften kam, richtete sich seine Aufmerksamkeit, die er bisher Magdalen zugewandt hatte, auf den Poststempel.
Über ihn gebeugt und mit dem Kopf auf seiner Schulter, konnte Magdalen den Stempel ebenso deutlich sehen wie ihr Vater: New Orleans.
„Ein Brief aus Amerika, Papa!“, rief sie. „Wen kennst du denn in New Orleans?“
In dem Augenblick, als Magdalen diese Worte aussprach, zuckte Mrs. Vanstone zusammen und blickte erwartungsvoll zu ihrem Mann.
Mr. Vanstone sagte nichts. In aller Ruhe nahm er den Arm seiner Tochter von seinem Hals, als wollte er sich von allen Störungen befreien. Also kehrte sie zu ihrem Platz am Frühstückstisch zurück. Ihr Vater hielt, den Brief in der Hand, eine Zeit lang inne, ohne ihn zu öffnen; ihre Mutter sah ihn währenddessen mit einer ungeduldigen, erwartungsvollen Aufmerksamkeit an, die Miss Garth ebenso auffiel wie Norah und Magdalen.
Nachdem er eine Minute oder länger gezögert hatte, öffnete Mr. Vanstone den Brief. Sobald er die ersten Zeilen gelesen hatte, veränderte sich die Farbe seines Gesichts; seine Wangen nahmen einen stumpfen, gelblichbraunen Ton an, der bei einem weniger rotgesichtigen Mann aschfahl gewirkt hätte; im gleichen Augenblick wurde sein Gesichtsausdruck traurig und düster. Norah und Magdalen sahen ihn ängstlich an, konnten aber nichts erkennen außer der Veränderung, die mit ihrem Vater vorging. Allein Miss Garth beobachtete, welche Wirkung die Veränderung bei der aufmerksamen Dame des Hauses hervorrief.
Es war nicht die Wirkung, mit der sie oder sonst irgendjemand gerechnet hatte. Mrs. Vanstone sah nicht beunruhigt, sondern eher erregt aus. Ein schwaches Rosa machte sich auf ihren Wangen breit, und in ihre Augen trat ein Leuchten. Immer wieder rührte sie den Tee in ihrer Tasse um – unruhig und ungeduldig, wie es sonst nicht ihre Art war.
Wie üblich brach Magdalen in ihrer Eigenschaft als verwöhntes Kind zuerst das Schweigen.
„Was ist denn los, Papa?“, fragte sie.
„Nichts“, sagte Mr. Vanstone knapp, ohne zu ihr aufzublicken.
„Aber da ist doch ganz bestimmt etwas“, beharrte Magdalen. „In diesem Brief aus Amerika stehen doch sicher schlechte Nachrichten.“
„In dem Brief steht nichts, was dich betrifft“, erwiderte Mr. Vanstone.
Es war die erste direkte Zurückweisung, die Magdalen jemals von ihrem Vater erlebt hatte. Sie sah ihn mit einer ungläubigen Überraschung an, die unter weniger ernsten Umständen unwiderstehlich absurd gewirkt hätte.
Mehr wurde nicht gesprochen. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben saß die ganze Familie unbehaglich schweigend um den Frühstückstisch. Mr. Vanstones gesunder morgendlicher Appetit war wie seine gesunde morgendliche Stimmung verschwunden. Geistesabwesend brach er ein paar Brocken von dem trockenen Toast auf dem Ständer vor ihm ab, geistesabwesend leerte er seine erste Tasse Tee – und verlangte nach einer zweiten, die er unberührt vor sich stehen ließ.
„Norah“, sagte er nach einiger Zeit, „du brauchst nicht auf mich zu warten. Magdalen, mein Liebes, wenn du willst, kannst du gehen.“
Seine Töchter erhoben sich sofort; Miss Garth folgte bedächtig ihrem Beispiel. Wenn ein Mann mit ungezwungenem Temperament sich in seiner Familie Geltung verschafft, erzielt dieses seltene Auftreten ausnahmslos seine Wirkung, und der Wille des ungezwungenen Mannes ist Gesetz.
„Was kann denn da passiert sein?“, flüsterte Norah, als sie die Tür des Frühstückszimmers schlossen und durch die Halle gingen.
„Was bedeutet das, dass Papa sauer auf mich ist?“ rief Magdalen, die sich in ihrem eigenen Gefühl der Verletzung verzehrte.
„Darf ich fragen, welches Recht ihr habt, euch in die Privatangelegenheiten eures Vaters einzumischen?“, versetzte Miss Garth.
„Recht?“, fragte Magdalen. „Ich habe keine Geheimnisse vor Papa – was sind das für Angelegenheiten, die Papa vor mir geheim halten muss? Ich fühle mich beleidigt.“
„Wenn du in Betracht ziehen würdest, dass du zu Recht zurückgewiesen wurdest, weil du dich nicht um deine eigenen Angelegenheiten gekümmert hast, wärest du der Wahrheit ein Stückchen näher“, sagte Miss Garth geradeheraus. „Ach, du bist wie alle anderen Mädchen heutzutage. Unter euch weiß nicht einmal eine von hundert, wo oben und wo unten ist.“
Die drei Damen traten ins Wohnzimmer; Magdalen würdigte Miss Garth’ Zurechtweisung, indem sie die Tür zuknallte.
Eine halbe Stunde verging, und weder Mr. Vanstone noch seine Frau kamen aus dem Frühstückszimmer. Der Diener, der nicht wusste, was vorgefallen war, ging hinein, um den Tisch abzuräumen. Er fand seinen Herrn und seine Herrin dicht nebeneinander sitzend in ernster Beratung – und ging sofort wieder hinaus. Noch einmal verging eine Viertelstunde, dann öffnete sich die Tür des Frühstückszimmers; die private Besprechung von Ehemann und Ehefrau war zu Ende.
„Ich höre Mama in der Halle“, sagte Norah. „Vielleicht kommt sie und will uns etwas sagen.“
Während ihre Tochter noch sprach, trat Mrs. Vanstone ins Wohnzimmer. Die Farbe ihrer Wangen war kräftiger, und in ihren Augen glitzerte das Leuchten halb getrockneter Tränen; ihr Schritt war hastiger, alle ihre Bewegungen waren schneller als gewöhnlich.
„Ich habe euch etwas zu sagen, was euch überraschen wird“, sagte sie, an ihre Töchter gewandt. „Euer Vater und ich fahren morgen nach London.“
Magdalen griff in sprachlosem Erstaunen nach dem Arm ihrer Mutter. Miss Garth ließ ihre Handarbeit in den Schoß fallen; sogar die ruhige Norah sprang auf und wiederholte verblüfft die Worte „fahren nach London“.
„Ohne uns?“, wollte Magdalen wissen.
„Euer Vater und ich fahren allein“, sagte Mrs. Vanstone. „Vielleicht für drei Wochen, aber nicht länger. Wir fahren…“ sie zögerte, „…in einer wichtigen Familienangelegenheit. Lass’ mich los, Magdalen. Die Notwendigkeit hat sich plötzlich ergeben. Ich habe noch viel zu tun, viele Dinge zu regeln bis