Beth St. John

City Vampire


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Feuerleiter erklomm und ihr hinauf auf das Dach folgte. Sie konnte jetzt nicht hinab, sie musste auf den Dächern bleiben. Am Dachfirst entlang rannte sie, bis sie am Ende angelangt war. Das Nachbarhaus war nicht allzu weit, sie konnte es schaffen. Sie nahm den Schwung ihres Laufs und die Kraft ihrer Beine und sprang beherzt, denn einen anderen Ausweg gab es nicht. Kurz gerieten die Ziegel unter ihren Füßen ins Rutschen, doch es gelang ihr, das Gleichgewicht zu halten. Sie warf einen Blick über die Schulter. Der Polizist folgte ihr, wenn auch nicht so geschickt. Er würde sich durch den Sprung nicht aufhalten lassen.

      Der Streifenwagen verfolgte sie von unten, folgte der Straße, die von den Häusern gesäumt war, über deren Dächer sie lief. Für einen kurzen Moment überfiel sie die Panik. Sie konnte nicht ewig hier oben weiterlaufen. Irgendwann würde das nächste Dach zu weit entfernt sein.

      Ihre Augen brannten im kühlen Nachtwind, der zwischen den Schornsteinen hindurch fegte. Sie kniff sie zusammen, versuchte gleichmäßig zu atmen und rannte weiter. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Es war soweit, das Dach endete in wenigen Metern und das nächste war weit weg – zu weit zum Springen.

      Die Fliehende ging ihre Optionen durch, in Sekundenbruchteilen zogen verschiedene Ideen durch ihren Kopf. Sie konnte kapitulieren und man würde sie verhaften. Sie könnte versuchen hinunter zu springen, doch würde sie sich wahrscheinlich sämtliche Knochen im Leib brechen, und dann war da auch noch der Streifenwagen. Oder sie konnte versuchen, das andere Dach zu erreichen. Hinüber zu springen. Wahrscheinlich würde sie stürzen. Aber vielleicht auch nicht – vielleicht genügte der Schwung, vielleicht genügte ihre Kraft. Es war der einzige Ausweg. Sie musste es riskieren.

      Der Polizist hinter ihr schrie irgendetwas. Er sah, was sie vorhatte und erkannte den Wahnsinn dieses Unterfangens. Doch die Gestalt achtete nicht auf ihn. Sie würde nicht ins Gefängnis gehen, niemals.

      Sie nutzte die letzten Meter, um noch einmal Schwung zu holen, und konzentrierte sich auf den richtigen Absprungpunkt. Zentimeter konnten darüber entscheiden, ob sie es schaffte oder fiel.

      Sie sprang mit aller Kraft ab und flog durch die Luft. Sie schloss für einen Moment die Augen, um sich nicht der gähnenden Leere unter sich bewusst zu werden. Als sie sie wieder öffnete, war sie fast auf der anderen Seite angelangt.

      Aber nur fast.

      Krachend landete ihr Oberkörper auf den Ziegeln, während ihre Beine unter ihr baumelten und ihre Füße verzweifelt nach Halt an der glatten Wand suchten. Der Polizist stand am Rande des anderen Dachs und beobachtete mit schreckgeweiteten Augen, was sich da vor ihm abspielte. Die Gestalt hörte ihn wieder rufen: „Halten Sie sich fest, wir holen Sie da runter!“

      Oh nein, das würden sie nicht tun. Sie würde es nicht zulassen.

      Dachziegel rutschten herab, als ihre Finger nach Halt suchten und zerschellten klirrend auf dem Asphalt. Sie bekam etwas zu fassen, etwas, das nicht nachgab, und zog mit aller Kraft ihren Körper nach oben. Adrenalin rauschte in ihren Ohren und setzte Kräfte frei, derer sie sich bislang nie bewusst gewesen war. Es gelang ihr, einen Fuß hinauf zu schwingen. Sie rollte sich über die Seite und blieb kurz auf dem Rücken liegen.

      Sie hatte es geschafft. Sie war noch am Leben.

      Der Polizist im Streifenwagen bekam davon nichts mit. Er war viel zu sicher gewesen, dass sie abstürzen würde, wahrscheinlich rief er gerade einen Krankenwagen. Oder direkt den Leichenbeschauer. Sein Kollege oben auf dem Dach schrie und gestikulierte wild, doch verhallten seine Rufe ungehört, wurden verschluckt vom Geheul des noch immer ertönenden Martinshorns. Der dunklen Gestalt war es recht. Sie stand auf, rannte mit neuer Kraft zum hinteren Rand des Dachs, sprang über einen sehr kleinen Spalt zum nächsten Haus und suchte dann dessen Wände ab. Es gab eine Feuerleiter, die in den Hinterhof führte. Dann glitt sie die Leiter hinab und rannte über den Hinterhof, kletterte über einen Zaun, durchquerte einen Garten, dann noch einen weiteren. Sie rannte, bis ihre Lungen zu bersten drohten und ihr Kopf so wild hämmerte, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Erst dann blieb sie stehen.

      Sie hatte es geschafft. Sie war entkommen. Sie nahm die Hülse ab, die sie noch immer bei sich trug, und schraubte sie auf. Da war es, das Gemälde, sicher und heil. Sie schraubte den Deckel wieder zu.

      Das war das letzte Mal, so schwor sie sich. Noch niemals zuvor war es so knapp gewesen, es war an der Zeit, aufzuhören. Dann verschwand sie im Dunkel der Nacht.

      Kapitel 2

      Ein Jahr später.

      Elaine pfiff leise vor sich hin, während sie den Tresen abwischte. Noch eine Stunde, dann hatte sie endlich Feierabend. Sie wollte sich und Mathis heute etwas Besonderes zum Abendessen kochen, hatte sie beschlossen. In letzter Zeit hatte sie oft so lange gearbeitet, dass sie sich nur kurz vor dem Zubettgehen gesehen hatten. Aber heute Abend hatte sie frei und das würde sie zu nutzen wissen! Eine kleine Glocke ertönte und kündigte das Eintreten eines Gasts an. Elaine warf einen schnellen Blick auf die Uhr und seufzte. Er war heute früher dran als sonst.

      „Hallo Süße“, rief die bekannte Stimme ihr entgegen. „Schenk mir einen Kaffee ein, ja?“

      Elaine nickte ihm zu Begrüßung kurz zu und nahm eine Tasse aus dem Regal. Sie stellte die Tasse auf dem Tresen ab und goss die dampfende, dunkelbraune Flüssigkeit aus der Kanne hinein.

      „Was darf’s denn heute sein, Pierre?“, fragte Sie höflich, doch distanziert.

      „Nach wie vor hätte ich am liebsten dich“, sagte der Mann, und seine Stimme klang schmierig.

      „Und nach wie vor stehe ich nicht auf der Speisekarte“, entgegnete Elaine routiniert. Pierre war nervtötend und er kam jeden Tag um fast dieselbe Zeit nach seiner Arbeit hierher. Aber Elaine nahm es gelassen. Eigentlich war er harmlos, hatte bloß eine große Klappe. Er war Vorarbeiter in einer Tischlerei und mochte um die fünfzig sein. Und um ehrlich zu sein, gab es wirklich schlimmere Typen auf dieser Welt.

      „Ich nehme ein Omelette“, sagte Pierre etwas enttäuscht und musterte Elaine, wie er es immer tat, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Elaine war eine ausgesprochen hübsche junge Frau. Das dunkelblonde Haar war voll und fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern. Ihre Augen waren von einem satten dunkelblau wie der tiefe Ozean und sie wurden von dichten dunklen Wimpern umrahmt. Zwar betrieb sie keinen besonders großen Aufwand um ihr Äußeres, was sie im Grunde aber noch attraktiver machte. Sie war eine natürliche Schönheit, die nicht viel Make-up brauchte, um aufzufallen. Die zarten Sommersprossen auf ihrer Nase machten ihr ansonsten ebenmäßiges Gesicht noch interessanter. Und dank ihrer schlanken Figur sah sie in jedem Kleidungsstück gut aus – selbst wenn sie einen Kartoffelsack getragen hätte, würde Pierre ihr hinterher starren.

      Elaine ging zur Durchreiche und schob einen Zettel auf die andere Seite. Ein kleiner, leicht untersetzter Mann mit beginnender Glatze streckte ihr den Kopf entgegen.

      „Ich schmeiße ihn für dich raus, wenn du willst“, sagte er mit einem Seitenblick auf Pierre. „Ganz ehrlich, ich weiß nicht, wie du das jeden Tag aushälst.“ Er rollte mit den Augen.

      Elaine musste grinsen. Henri war ihr Chef, ihm gehörte das Café. Er war ein herzensguter Kerl, sie mochte ihn sehr. Er bezahlte anständig und nahm seine Angestellten in Schutz. Und wenn ein Kunde sich danebenbenahm – was zum Glück nicht häufig vorkam, denn es war ein Café und kein Nachtlokal – dann setzte er ihn vor die Tür.

      „Ach, lass ihn“, entgegnete sie lächelnd. „Er ist doch schließlich ein Stammkunde von dir. Ich komme schon damit klar.“

      „Aber sollte er jemals versuchen, dich zu begrapschen, sagst du es mir, in Ordnung? Dann fliegt er raus!“

      Elaine nickte grinsend. „Alles klar.“

      Kurz darauf servierte sie Pierre ein goldgelbes, duftendes Omelette und überhörte wie gewohnt seine anzüglichen Bemerkungen. Dann begann Elaine die Tische im hinteren Bereich abzuwischen. Sie war wirklich gerne hier. Ihr war schon klar, dass sie bloß eine Kellnerin war – und sicherlich hätten die meisten Menschen ihr dazu geraten,