Michael Bardon

Die Probanden


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auch, denkt er frustriert.

      »Schatz, die Tür! Dein ganzer Sitz ist schon nass …«

      Eine Hand auf seiner Schulter. »Alles klar bei dir? Ach herrje! Scheiße, ist das ärgerlich …«

      Steffen sieht auf und blickt in Ralfs besorgtes Gesicht. Sein blondes Haar ist über und über mit Schnee bedeckt. Selbst an Ralfs sorgsam gestutztem Kinnbart und der rahmenlosen Brille hat sich das weiße Zeug bereits festgesetzt.

      »Ist jemand verletzt? Seid ihr okay? Ich habe gar nicht richtig mitbekommen, was passiert ist. Wenn Jenny nicht plötzlich Halt geschrien hätte, wär ich dir vielleicht sogar noch hintendrauf gefahren. Was für ein Wetter … Das ist doch nicht normal.«

      »Ach! Verdammt, Mann. Ich habe gebremst, weil da vorne irgendetwas Gelbes geblinkt hat«, berichtet Steffen und weist mit seiner Hand ins Schneegestöber hinaus. »Wir sind ins Rutschen gekommen und ein paar Sekunden später hat’s dann auch schon gescheppert. Scheiße …«

      Während Steffen noch in gebückter Haltung neben seinem Auto steht und den Schaden des Rovers mit den Fingern abtastet, hört er, wie Ralf erschrocken die Luft durch die Zähne zieht. »Himmel, Steffen, da kommt jemand …«

      Steffen blickt verdutzt auf und folgt mit den Augen dem ausgesteckten, von der Kälte schon rötlich verfärbten Zeigefinger seines Freundes. Eine Gestalt, schemenhaft, massig, bedrohlich aussehend, kämpft sich durch den Schneesturm. Steffens Atem stockt. Vergessen ist der Blechschaden. Vergessen ist der Ärger über seinen dummen Fahrfehler.

      »Jesses, was ist das? Ein Bär?«, zischt er mit zusammengekniffenen Augen. Der Wind hat an Intensität zugelegt; er treibt die großen Schneeflocken fast waagrecht vor sich her. Seine Ohren schmerzen. Sie schmerzen immer, sobald sie mit Kälte in Berührung kommen. Da hilft nur eine Mütze. Am besten aus dicker Wolle, engmaschig gestrickt. Doch die liegt natürlich vorne im Auto. Gleich rechts, neben dem Fach in der Mittelkonsole.

      »Steffen, Steffen, da kommt ein Mann. Kommst du bitte mal nach vorne.« Kirstens Stimme, unterlegt mit einem leichten Anflug von Panik.

      Die Gestalt – es ist wirklich ein Mann – nähert sich mit unverminderter Wucht, stapft durch den Schnee, als gäbe es ihn überhaupt nicht. Er hebt seine rechte Hand, die in einem dicken Fäustling steckt, und schiebt sich die Schirmmütze aus der Stirn.

      »Guadn Dog, i bin da Hölzle-Baua. Seids ihr de Urlaubsgäst aus da Stod?«

      Verdutzt blicken Steffen und Ralf erst sich, dann den Fremden an. Dann lachen sie befreit auf und treten aus dem Windschatten des Rovers auf den Mann zu.

      Kluge Augen mustern sie, während über den bartumsäumten Mund des Mannes ein wissendes Lächeln huscht.

      »Ja. Ich bin Steffen Schaller. Wir haben gestern miteinander telefoniert. Das hier ist«, er zeigt nach links, »Ralf Stegler.«

      »Hobt ihr oan Unfoi kabd?«

      »Bitte?«

      »Obs ihr oan Unfoi kabd hobt?«

      »Ah … einen Unfall! Ja, wir sind mit dem Auto gegen die Felskante gerutscht. Ist aber nicht weiter schlimm. Wie weit ist es denn noch bis zu Ihnen auf den Hof? Der Schnee ist ja Wahnsinn. So etwas habe ich noch nie erlebt«, gesteht Steffen, während er sich mit einer fahrigen Geste die Schneeflocken aus den Haaren wischt.

      »Is ned mehr weid«, sagt der Mann. »Da voane kommt a Biegung. Dann geht es nach fönfzig Metern rechts den Berg auffi. I hob mid am Schneeraupe de Straße fär eich freigräumt. Auf gäds, de Zeit drängt. Da Schnä wird imma dichta. Scheiß Weda, verdammts …«

      Ohne ein weiteres Wort dreht der Mann sich um und stapft davon. Unschlüssig schauen sich die beiden Freunde an.

      »Hast du mit dem gestern telefoniert?«

      »Wenn, dann hat er am Telefon jedenfalls ganz anders geklungen«, sagt Steffen. »Was soll’s? Viele Alternativen haben wir nicht, oder? Wenn du mich fragst, sollten wir dem Mann einfach vertrauen. Wenn wir noch lange hier herumstehen, werden wir bestimmt eingeschneit. Ich habe zwar kaum etwas von dem verstanden, was er gesagt hat, aber gleich da vorne müsste es laut meinem Navi zum Hölzle-Hof abgehen.«

      »Ich mache freiwillig zehn Kreuze und bete fünf Vaterunser, wenn wir den Hof erreichen. Luisa und Jenny schieben schon die ganze Zeit über Panik und würden am liebsten wieder umkehren.«

      »So’n Quatsch. Wir ziehen das hier jetzt durch. Wenn wir erst einmal in unserer Hütte sind und die Sonne wieder scheint, werden sich die Mädels schon wieder einkriegen«, sagt Steffen und lacht gekünstelt.

      »Genau. Wir wollten doch Weihnachten im Schnee verbringen. Jetzt haben wir Schnee und es ist den Damen auch wieder nicht recht. Scheiße, ist mir kalt. Lass uns endlich weiterfahren, Alter. Wenn ich mir das Chaos hier so anschaue, kann es doch eigentlich nur noch besser werden, oder?«

      »Denk ich auch«, stimmt Steffen nach einem kurzen Augenblick des Zögerns zu. »Was haben wir noch zu verlieren? Schlimmer geht’s wohl nimmer …«

      -4-

      Während die Welt um sie herum im Schneegestöber zu ersticken droht, genießen die sechs Neuankömmlinge die mollige Wärme des frisch geschürten Kamins. In der alten, gemütlichen Gaststube des Hölzle-Hofs riecht es nach geräuchertem Speck, verbrannten Kiefernadeln und den aromatischen Zutaten eines guten Jagertees. Die Einrichtung ist rustikal gehalten, was die gemütliche Atmosphäre aber noch verstärkt.

      Steffen sitzt mit halb geschlossenen Augenlidern gegen den Kachelofen gelehnt; er genießt die wohltuende Wärme, während er fasziniert aus dem Fenster blickt. Der ohnehin schon dichte Schneefall hat sich zu einem wahren Inferno gesteigert, das alles zu verschlingen scheint, was sich ihm in den Weg stellt. Er hört das Jaulen des Windes, hört, wie sich das alte Bauernhaus knarzend gegen den Sturm stemmt. Entfesselte Naturgewalten, wild und feindselig, die er so noch nie erleben durfte.

      Seine Gedanken schweifen ab. Er denkt an den kleinen Unfall und an die Angst, die er für einen kurzen Moment im Schneegestöber verspürt hat: als der Mann auftauchte und auf sie zugelaufen kam. Wie kindisch, denkt er und schallt sich selbst einen Narren. Ein bisschen Schnee, ein bisschen Kälte und du machst dir bei der ersten Gelegenheit fast in die Hosen. Gott, ist das armselig …

      Egal! Schwamm drüber. Jetzt hatten sie es ja geschafft. Sie waren der Kälte und dem Sturm entkommen und genossen die Wärme und die Sicherheit des alten Bauernhauses. Ihre beiden Autos parkten in der Scheune und für die Nacht würden sie in den oberen Stockwerken Quartier beziehen.

      Aus dem hinteren Teil der Gaststube hört er das laute Johlen seiner Freunde. Sie spielen Karten. Räuber-Rommé. Eine abgewandelte Form des normalen Rommés. Es geht hoch her am Tisch. Die fünf Freunde lachen, schimpfen und necken sich gegenseitig. Steffens Blick wandert durch die Gaststube und saugt sich für einen kurzen Augenblick an seiner Frau fest. Süß sieht sie aus, mit ihren schulterlangen braunen Locken, der kessen Nase und den haselnussbraunen Augen, die so sanft und verständnisvoll in die Welt blicken. Sein Blick wandert weiter, bleibt bei der blonden Jenny hängen. Kurzhaarfrisur. Stahlblaue Augen. Eine schwarze Brille beherrscht das ovale Gesicht mit den vollen Lippen. Eigentlich findet er Brillen bei Frauen ja nicht sexy. Doch Jenny wirkt gerade wegen ihrer Brille sehr charismatisch. Das schwarze Gestell verleiht Jenny, die eigentlich Jennifer heißt, das gewisse Etwas. Gerade die Brille machte sie – von ihrer perfekten Figur einmal abgesehen – für die balzende Spezies höchst attraktiv. Das kann noch sehr unterhaltsam werden, wenn Simon seine Charme-Offensive auf Jenny startet, denkt Steffen, während er sich wohlig gegen den Kachelofen drängt. Sein Blick schweift weiter und heftet sich an Luisa.

      Luisa ist Friseurmeisterin und wechselt ihr Aussehen wie andere Frauen ihre Garderobe. Vor ein paar Wochen noch hatte sie ihre Haare in einem satten Blauton gefärbt. Den lösten schwarze Extensions ab, eine neue Art der Haarverlängerung. Und jetzt hat sie lockige blutrote Haare, die zu einem Seitenscheitel fallen. Auch das steht ihr gut, findet Steffen.

      Die