Jürgen Mietz

Schulpsychologie -


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und Einkommenschmälerung, für den Unternehmer ist der Arbeiter ein Kostenfaktor. Das Kind, der spätere Schulleiter, war zwischen diesen beiden Philosophien der Gegnerschaft neutralisiert.

      Warum, mag man fragen, tun sich Leute mit so gegensätzlichen Einstellungen zusammen? Bei weiterer Analyse stellt sich oft heraus, dass in jedem System die Negation schon selbst enthalten, sie ihr also nicht fremd ist. Im letztgenannten Beispiel hatten die väterlichen Großeltern ein kleines Geschäft, welches eingegangen war. In der Familie der Großeltern mütterlicherseits gab es abhängig Beschäftigte, die abwertend als "Proleten" betrachtet wurden.

      Im Partner lässt sich die "interne" Negation nach außen verlagern und gleichzeitig "weiterbearbeiten", im Kind der nachfolgenden Generation verdichtet sie sich zu einer Entwicklungshemmung. Daraus entwickeln sich dann Persönlichkeiten, die bemüht sind, nichts Eigenes zu haben und sich über Ausgleich, Vermittlung und Harmonisierung definieren; sie können es evtl. nicht ertragen, wenn sich Identität und Unterschiedlichkeit in ihrer Person und in ihrer Umgebung zeigen. Für Institutionen, die auf Stabilität angelegt sind, und sich nicht mit ihrer Umgebung austauschen müssen oder sollen, erfüllen sie ihren Zweck.

      Eine andere Erscheinung, die zum Entwicklungshindernis werden kann, sind Doppelungen, die im ungünstigen Fall Entweder-Oder-Konstellationen zur Folge haben. Sie bergen im günstigen Sowohl-Als-Auch-Fall zusätzliche Entwicklungsmöglichkeiten.

      Wachsende Bedürfnisse nach Individualisierung, aber auch Tod, Trennungen, Scheidungen bringen es mit sich, dass Eltern sich mit neuen Partnern zusammentun. So sehr das manchen als gängig und selbstverständlich erscheinen mag, so wenig ist es vielen Individuen und der gesellschaftlichen Konvention möglich, Kinder sich mit zwei Personen in der Vater- oder Mutterposition identifizieren zu lassen. Implizit oder explizit ergeht die Aufforderung an das Kind, einen Teil seiner Existenz zu vergessen, ihn zu löschen.

      Ist es gezwungen, Vater 2 oder Vater 1 zu »löschen«, heißt das, einen Teil von sich zu negieren, negieren zu müssen. Auslöschung, Bekämpfung wird Teil des "Programms", Teil der versammelten Lebenserfahrung, die an die nächste Generation weitergegeben wird. Dieser Destruktivität, die auf aufklärerisch-naturwissenschaftlichen Konzepten der Einfachheit und Eineindeutigkeit beruht, ist nur beizukommen, wenn sich individuelle und gesellschaftliche Normen wandeln. Können Menschen mit einer solchen Doppelung oder mehreren Doppelungen in ihrer Familiengeschichte "multiple" Persönlichkeiten sein, stellt das für sie und die Gesellschaft Entwicklungspotenzial dar. Sie haben in sich das Strukturmodell, welches für Zukunftsgestaltung immer wichtiger wird. Mit Differenz offen und gestaltend umgehen zu können (statt Einfachheit und Eindeutigkeit mit Macht herzustellen) wird angesichts der Zunahme von unterschiedlichen Lebensentwürfen, des Zusammentreffens von Menschen aus unterschiedlichsten Gesellschaften und Regionen immer dringlicher.

      3.4 Bewusstsein - Selbstbewusstsein

      Bewusstsein ist in dieser Konzeption das Wissen um die eigene Geschichte und um die eigenen Widersprüche. Weiterhin gehört dazu eine Kenntnis über Funktionsweisen des Gesellschaftlichen und wie die Person sich mit dem Gesellschaftlichen austauscht, auf es einwirkt und sich darüber am Leben erhält.

      Selbstbewusstsein ist das Wissen um die Strukturen und Inhalte der in Generationenarbeit gewachsenen Lebenserfahrungen, die "meine" Gestaltungsrundlage sind. Aus ihnen leitet sich das Wissen um das "eigene Besondere" gegenüber dem Allgemeinen ab. Dieses Selbstbewusstsein versteht sich also anders, als es gemeinhin üblich ist: Es entsteht nicht in erster Linie aus erfolgreichem Handeln, aus Lob und Anerkennung. Im Gegenteil: Es ist relativ unabhängig davon.

      Es lohnte sich darüber nachzudenken, welche Funktion Lob und Anerkennung in Schule haben; weshalb Schüler Lob oft nicht "vertragen"; was mit Lob erreicht wird, wenn es "anschlägt". Und welche Möglichkeit Schule bietet, Bewusstsein und Selbstbewusstsein im hier skizzierten Sinne zu entwickeln.

      3.5 Fazit

      Um desintegrierenden Formen gesellschaftlicher, institutioneller und individueller Differenzierung Gestaltungspotenzial gegenüberzustellen, ist es erforderlich, Individualisierung voranzutreiben. Damit ist gemeint, die Individualität der Menschen in die Gestaltung von Schule und Gesellschaft einzubeziehen, sie dafür zu nutzen. Individualisierung heißt nicht Vereinzelung, Absonderung vom Gemeinwohl, Egoismus. Im Gegenteil: das individuelle Besondere steht immer in Bezug zum allgemein Menschlichen und Gesellschaftlichen, ist ohne diese nicht denkbar. Je tiefer eigene und fremde Individualität - zusammengesetzt aus unterschiedlichen Herkunftsfamilien, eigentlich Kulturen - verstanden wird, desto deutlicher werden die Bezüge zum Allgemeinen und Universellen, desto klarer wird der Zusammenhang der Wechselwirkung zwischen beiden. Dies zu erkennen und für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung zu nutzen - dazu kann Psychologie im hier vorgetragenen Sinne wichtige Beiträge dazu leisten.

      4 Anwendung des Persönlichkeitsmodells auf Schule

      Eltern können ihren Kindern selbstverständlich behilflich sein, die Schule besser zu meistern, wenn sie zusätzliche Potenziale in ihrer Familiengeschichte entdecken und für das Kind verfügbar machen. Ein großer Teil schulpsychologischer Arbeit hat das zum Inhalt. Für Schule sowie für Lehrer und Lehrerinnen ergeben sich daraus jedoch keine neuen, zusätzlichen Entwicklungsperspektiven. Im Folgenden will ich mich deshalb auf Überlegungen und Aspekte beschränken, die sich auf erweiterte Handlungsmöglichkeiten für Lehrer und Lehrerinnen beziehen.

      4.1 Aspekt: Lehrerinnen-Individualität und Umgang mit schwierigen Kindern

      Kinder zu unterrichten und zu erziehen ist immer eine Herausforderung an das Selbstverständnis (an die versammelten Lebenserfahrungen, an das historisch überlieferte Programm) des Lehrers, der Lehrerin. Wenn es gelingt, die Persönlichkeit als wichtiges Arbeitsinstrument zu sehen, sind neue Zugänge möglich.

      Beispiel: Eine Lehrerin hat Schwierigkeiten, Schülern, aber auch Eltern, orientierend, grenzsetzend gegenüberzutreten, sich »bemerkbar« zu machen. Sie lässt sich von ihren Vorhaben leicht ablenken. Die Kinder zu ermahnen, zeigt keinen dauerhaften Erfolg. Die Analyse der Familiengeschichte ergibt, dass es ein Tabu in der Familie der Mutter der jetzigen Lehrerin gab. Der früh verstorbene Großvater (als die Mutter der Lehrerin 10 Jahre alt war) ist immer ein "weißer Fleck" in der Identitätsbildung der jetzigen Lehrerin geblieben. Kam das Gespräch auf ihn, wurde ausweichend reagiert. Die Befragung ergibt, dass nach den Geburtsjahren der jüngeren Halbgeschwister zu urteilen, die Beziehung der Großeltern durch Trennung beendet wurde und nicht durch Kriegsereignisse, wie man versucht hatte, der Mutter der Lehrerin weiszumachen. Die Mutter der Lehrerin hatte gelernt, einen Teil ihrer Existenz zu verleugnen und geheim zu halten - auch gegenüber der Tochter. Und diese lernte, nicht nachzufragen, sondern zu lavieren; brav zu sein, andere nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Dieses Modell der Beziehungsgestaltung hat sie auch in ihrem Beruf verwendet und damit Schwierigkeiten bekommen.

      Die Lehrerin hatte nun zunächst eine Annahme über den Grund ihrer Unsicherheiten und damit einen Ansatzpunkt, sie zu überwinden. Sie befragte ihre Mutter nach deren Vater. Das bedeutete an sich schon eine bis dahin nicht mögliche Auseinandersetzung mit kritischen Themen, ein tendenzielles Aufgeben der Bravheit und Fügsamkeit. Darüber hinaus förderte sie Inhalte der Lebensweise des Großvaters zutage, die den weißen Fleck ihrer Geschichte auffüllten. Zunehmend - auch in Verbindung mit anderen Forschungsergebnissen - konnte sie sich als aktiv handelnde Frau begreifen, Grenzen setzen etc.

      4.2 Aspekt: Individualität und Kooperation Schule - Elternhaus

      Aufgrund persönlicher Geschichte und auf Grundlage des Selbstverständnisses der Schule als Korrektiv zu "schlechten" Elternhäusern handeln Lehrer und Lehrerinnen, wie auch Schulleitungen häufig so, dass sie Familienidentität in Frage stellen. Eltern wehren sich dagegen, können schulische Anliegen nicht unterstützen, müssen sie gar abwehren. Sie spüren deutlicher als der Lehrer selbst, dass dieser das Kind vor seinen Eltern bewahren will oder etwas ganz Neues aus ihm machen