Rolf W. Meyer

Überleben im Alltag


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sein, mit aller Körperkraft anzugreifen oder notfalls zu flüchten. Denn es kommt immer wieder vor, dass die Tiere unerwartet angreifen. Ein ausgewachsenes Mammut zu jagen, erscheint im Moment zu riskant. Daher halten die Jägerinnen und Jäger Ausschau nach jungen oder kranken Tieren. Plötzlich kommt Unruhe in der Herde auf. Laute Trompetentöne der Mammute sind zu hören. Aufgeregt laufen die Tiere durcheinander, wodurch die Mammutkälber den Kontakt zu ihren Müttern verlieren. Das ist die Chance für die Jäger. Während der Mammutbulle laut trompetend und mit hoher Geschwindigkeit sich einem Teil der Neanderthalergruppe nähert, gelingt es einigen Jägern ein Jungtier von der Herde zu trennen. Sie treiben es zu einer Stelle, wo bereits Jägerinnen und Jäger warten. Als das Mammutkalb heraneilt, stoßen sie ihre hölzernen Lanzen und Speere in den Körper des Tieres. Es erleidet einen qualvollen Tod. Der Angriff des Mammutbullen endet für zwei Neanderthaler tödlich. Die anderen Gruppenmitglieder haben sich nur mit Mühe retten können. Lang anhaltende Trompetengeräusche lenken die Aufmerksamkeit der Neanderthaler auf ein Mammut, das im Schnee versunken ist. Dieser hatte sich auf der dem Wind abgewandten Seite eines Hügels angehäuft. Die Hilflosigkeit des Tieres in einer solchen Situation nutzen die Jägerinnen und Jäger aus. Da sie unter hoher Anspannung stehen, laufen sie schreiend mit ihren blutigen Jagdwaffen auf das Tier zu. Wie im Rausch rammen sie die Stoßlanzen und Speere in den Körper des Tieres, ziehen die Waffen wieder heraus, um dann erneut zuzustoßen. Schon bald ist nur noch das Röcheln des Mammuts zu hören, das sein nahes Ende anzeigt.“ [1]

      Sicherlich wird mancher Jäger seine Jagderfolge dafür genutzt haben, um bei den Frauen des Sozialverbandes einen guten Eindruck zu hinterlassen. Er merkte aber nicht, dass die Frauen ihn nur ausnutzen, wenn sie sich scheinbar beeindruckt von seinen Jagdschilderungen zeigten. Denn den Frauen ging es vorrangig darum, bei der Beuteverteilung Vorteile zu haben.

      Wenn die Mammutjagd erfolgreich verlaufen war, konnte von dem Beutetier der gesamte Körper verwendet werden: Körperfleisch und Körperfett dienten als Nahrung. Das Elfenbein verwendete man zur Herstellung von Waffen und Schmuck. Die Knochen waren vielseitig verwendbar, und zwar als Waffen, als Werkzeuge zur Herstellung von Faustkeilen und als Feuermaterial. Das Knochenmark hatte einen hohen Nährwert. Das Fell nutzte man zur Herstellung von Kleidung und als Abdeckungsmaterial für Behausungen.

      Es lohnt sich darüber nachzudenken, welche Jagdstrategien bei unseren frühzeitlichen Vorfahren unter den jeweiligen ökologischen Gegebenheiten erforderlich waren. Die ökologische Abhängigkeit einer Jäger- und Sammlerwirtschaft machte eine Verteilung von Sozialgruppen über große Gebiete erforderlich. Aus ökonomischen, biologischen und sozialen Gründen ist eine isoliert lebende Gruppe auf Dauer, zumal bei einem eingeschränkten Angebot an Nahrungsressourcen, nicht lebensfähig. Daher muss sie auch Kontakte zu anderen Gruppen suchen. Um den Fortbestand der Gruppe zu sichern, ist eine Zuwanderung oder die Werbung von Frauen von Vorteil (Frauen als wertvolle biologische Ressourcen!). Der Kontakt zu anderen Gruppen macht es möglich, Tauschhandel zu betreiben, Erfahrungen, technische Fähigkeiten und rituelle Kenntnisse auszutauschen. Wenn die ökologischen Bedingungen zu bestimmten Jahreszeiten gut waren, brachte es Vorteile, wenn man sich mit anderen Gruppen zu größeren Jagd- und Sammelverbänden zusammenschloss („Fusion Strategy“, Verschmelzungs-Strategie). Dadurch konnte beim Jagen und Sammeln mehr erbeutet werden. Unter schlechten ökologischen Bedingungen war es vorteilhafter, bei einem geringeren Nahrungsangebot wieder kleinere Gruppen zu bilden und sich über größere Gebiete zu verteilen („Fission Strategy“, Aufspaltungs-Strategie).

      Die ausführliche Beschreibung der Lebensweise der Neanderthaler in diesem Kapitel lässt sich damit begründen, dass viele der beschriebenen Verhaltensweisen der Frühzeitmenschen auch heute noch für den urbanen Menschen für das Überleben im Alltag erforderlich sind. Denn die schnelle kulturgeschichtliche Entwicklung stellt ihn vor gewaltige Herausforderungen. Allerdings hat er sich mittlerweile vom Jäger zum Gejagten entwickelt.

      3. Vom freien Denken zum Obrigkeitsdenken – Ein historischer Rückblick

      Zwei Schilderungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert sollen veranschaulichen, wie sich in früheren Zeiten der urbane Mensch einem Umfeld gegenüber verhalten hatte, das von Obrigkeitsdenken geprägt war. Als Obrigkeit bezeichnete man in hierarchisch organisierten Gemeinwesen seit dem späten Mittelalter bis in die Moderne hinein diejenigen Personen oder Institutionen, die zum Beispiel rechtmäßig die Herrschaft ausübten und die rechtliche und faktische Gewalt über die Untertanen besaßen, von denen man Gehorsamkeit erwartete.

      Zu Urgroßvaters Zeiten: Das Gesuch

      Haselbrunn, 4. Mai 1897

      An die Königliche Amtshauptmannschaft zu Plauen

      Plauen (Vogtland) In Erfahrung gebracht, dass zur Errichtung eines oder mehrerer Wohnhäuser und hier auf den Grundstücken gegenüber dem Restaurant „Zum Waldschlößchen“ ein Gesuch gegeben werden wird, gestatte ich mir Nachstehendes untertänigst zu unterbreiten. Meines Erachtens ist es infolge der unmittelbaren Nähe der Kreisstadt Plauen und der in Haselbrunn unaufhörlich wachsenden Bautätigkeit schon längst nicht mehr ohne einen Bebauungsplan zu bauen, damit bei der namentlich in den letzten Jahren gestiegenen Grundstückwerthe und der Bebauungsweise den einen begünstigende, den anderen benachteiliegende Fälle nicht auftreten können. Mich würde es bei meinen großen Folien, die ich zwischen Plauensche und Crieschwitzer Straße besitze, unberechenbar schädigen, falls durch Errichtung von Wohnhäusern oder sonstigen Gebäuden gegenüber dem „Waldschlößchen“ auf Theile von der Eisenbahnbrücke bis zum Kauschwitzer Forsthausgarten ohne vorgesehene Straßenprojekte eine Bebauung vor sich ginge.

      Gnädigst bin ich, höflichst bitten zu müssen: Eine hohe Königliche Amtshauptmannschaft wollen genehmigst eine Genehmigung zu solchen Bauten nicht erteilen, da es sicher ist, daß die dahinter gelegenen, bis zur Kauschwitzer Straße reichenden Grundstücke ohne Bestehen eines Bebauungsplanes geschädigt werden.

      Einen gefälligen Bescheid sieht erfurchtsvoll entgegen

      Friedrich Otto Meyer, Gutsbesitzer

      Das Amtsgericht Adorf im Vogtland [2]

      Nachdem Albert Lenk den Bescheid erhalten hatte, dass er als Jurist an das Amtsgericht Adorf im Vogtland versetzt werden soll, zeigte er sich dieser Nachricht gegenüber aufgeschlossen. Für ihn bedeutete das eine neue berufliche Chance.

      So packte er alle seine Habseligkeiten, die in einen Koffer passten, und fuhr am 1. Februar 1925 mit dem Zug nach Adorf. Das Amtsgericht stand am Marktplatz, genau gegenüber dem Rathaus. An der oberen Querseite des Marktplatzes lag die alte Apotheke, an der unteren Querseite die Kirche. Schräg gegenüber befand sich der Gasthof „Zum Goldenen Löwe“. Das Gericht war in dem alten Amtshaus untergebracht. Eine breite Treppe führte zu einer Tür hinauf. Durch sie trat man in eine Halle mit dicken Steinfließen und einer Gewölbedecke. Im Erdgeschoss war hinter dicken Mauern und kleinen Fenstern der Sitzungssaal. Darin stand ein großer, gusseiserner Etagenofen. Er wurde vom Wachtmeister, der zugleich Leiter des Gefängnisses und Hausverwalter war, geheizt. Wer dem Ofen zu nahe saß, wie etwa der Angeklagte, erlitt Hitzequalen. Wer weit entfernt vom Ofen saß, etwa auf dem Podium hinter dem Richtertisch, fror. Im ersten Stock des Amtshauses befanden sich die Geschäftsräume, im zweiten Stock die Dienstwohnung des Gerichtsvorstandes. Außer ihm war ein zweiter Richter, ein Assessor, tätig. Er war mit einer Tochter aus einer Familie der Stadt Adorf verheiratet.

      Albert Lenk bekam im Grundbuchamt einen Platz zugewiesen. Der Raum, in dem ringsherum Regale voller Akten standen, war durch eine Reihe brusthoher Stahlschränke in zwei Teile getrennt. Die Stahlschränke waren mit einer dicken Holzplatte abgedeckt, die wie eine Theke wirkte. Jenseits der „Theke“ stand das rechtssuchende Publikum. In den Schränken lagen feuersicher die Grundbücher. Im Nebenzimmer saß der Amtsgerichtsrat. Im Grundbuchamt wirkte der erfahrene, im gesamten Gerichtsbezirk bekannte und beim Publikum als Berater beliebte „Schustizinschpekter“ Burckhardt. Am 1. Arbeitstag erhielt Albert Lenk sein Monatsgehalt ausgezahlt. Es war das erste Geld, dass er im erwählten Beruf verdiente: 103,25 RM. Es war für ihn ein denkwürdiger Augenblick, als er diesen „Unterhaltszuschuss“ einstreichen konnte. Er war kein Zuschuss,