Ralph Ardnassak

Unter Barbaren


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dass weiß er nicht. Vielleicht dann, wenn die Schrock wieder jemanden gefunden hat, der Gnade vor den Augen ihrer Eltern gefunden hat! Vielleicht dann, wenn er seine Arbeit verliert oder krank wird! Wann? Er weiß es nicht! Er weiß nur, dass es geschehen wird, wie der Winter, der auf den Herbst folgt, mit Schnee, Stürmen und Frost! Und das macht ihm Angst! Aber er kann es nicht abwenden! Er kann die Dinge nicht ändern! Er muss die Dinge hinnehmen, wie sie sind!

      Klatt weiß, dass er einige Fachbücher lesen müsste. Er müsste seine Seminare vorbereiten, denn er glaubt nicht mehr an sich und sein Wissen, lange schon nicht mehr! Klatt hat Angst, vor dem Seminar zu versagen, obwohl er weiß, dass er das nie tat. Klatt hat Angst, seine Arbeit zu verlieren und damit sein Einkommen. Er hat Angst, seiner Familie nichts mehr bieten zu können, kein Einkommen mehr und kein Sparguthaben, zum Parasiten zu werden. Er hat Angst, hinausgeworfen zu werden, die Familie zu verlieren, an jemanden, der ein Einkommen hat! Klatts Hände zittern. Er hat Angst. Angst vor der ganzen Welt, die sein Feind ist. Klatt trinkt hastig sein Glas aus. Aus dem Kinderzimmer dringt Musik und Lachen. Seine Tochter sieht fern, ihre abendliche Trickfilmserie. Ein warmes Gefühl der Zärtlichkeit überkommt Klatt. Seine Hände zittern stärker. Er braucht die barmherzige Decke aus Alkohol und Nacht und Vergessen. Er trinkt sein Glas leer und greift schnell nach der Bierflasche. Mit geübter Bewegung hebt seine Linke die Flasche an und schüttelt sie probeweise hin und her. Bereits beim Anheben stellt Klatt fest, dass die Flasche zu leicht, also leer ist. Er ist enttäuscht. Aber irgendwie entsetzt ihn die Geschwindigkeit, in der er das Bier konsumiert. Aber er braucht diese barmherzige Decke.

      Zu stark ist die Angst, zu stark ist der Druck in seiner Brust, seinen Schläfen! Zu stark ist das Zittern seiner Hände, das sein Kind nicht sehen soll und auch sonst niemand! Rasch holt er die dritte Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Das Zischen beim Öffnen ist wie eine Erlösung. Zitternd gießt Klatt sich ein. Schaum rinnt über den Rand des Glases bis auf den Tisch, aber Klatt merkt es nicht. Er trinkt jetzt langsamer. Ruhe und Dumpfheit machen sich in ihm breit. Er spürt jetzt weder körperlichen noch seelischen Schmerz. Klatt schaltet den Fernseher ein. Der Privatsender, den die Schrock gewöhnlich Abend für Abend sieht zeigt irgendein Magazin. Visuelle Bildzeitung für den Zeitgenossen, der zwischen Abendessen und Einschlaftrunk die Bestätigung brauchte, dass es anderen noch viel schlechter ging. Die übliche bunte Mischung aus Sex, Kriminalität, Wunderglaube und UFOs. Klatt war es beinahe gleich, was da über den Bildschirm flimmerte: blinder ausgesetzter Husky wird nach von Zuschauern finanzierter Operation wieder sehend; strapstragende Chefin einer Drückerkolonne in der Oberpfalz richtet Drücker im Wald mit Kalaschnikow hin; Polizeiobermeister lässt sich auf chirurgischem Wege zur Frau machen - Rückkehr in den Polizeidienst versperrt. Und so weiter. Aus dem Kinderzimmer dringt Lachen. Die Trickfilmserie: kommerzialisierte Kinderträume! Klatt trinkt. Er weiß, er sollte das nicht tun. Er weiß, dass er zu viel und zu schnell trinkt und morgen Kopfschmerzen haben wird! Aber das ist jetzt egal! Es wird sein letztes Bier sein, für heute Abend, vielleicht sein vorletztes..., denn er muss dem Kind noch sein Abendessen machen und es ins Bett bringen. Es ist jetzt dunkel draußen. Die Schrock aber ist noch immer nicht da! Er weiß, sie hat vor zwei Stunden Feierabend gehabt. Das weiß Klatt, mehr weiß er nicht! Er weiß nicht wann sie kommt, nein, er weiß nicht einmal, ob sie kommt. Früher hat ihn das bis zum Wahnsinn gequält. Er hat gewartet, Stunde um Stunde. Er hat sich das Hirn zermartert, was geschehen sein könnte. Aber er hat zu oft und zu lange gewartet. Warten ist eine Art der Gleichgültigkeit, ja der Grausamkeit, die man demjenigen antut, den man warten lässt. Es ist eine Vergewaltigung der Gefühle, eine Abwertung, eine Demütigung, derjenigen nicht unähnlich, wie sie Behörden dem Bürger angedeihen lassen, wenn er ein Anliegen hat. Klatt hat all dies durchlebt, neun lange Jahre lang. Neun lange Jahre lang hat er das Warten kennengelernt: durchwachte Nächte voller Angst und Eifersucht, Einsamkeit und Verzweiflung! Tod der Seele, der die Liebe blind werden lässt, wie altes stumpfes Glas. Klatt ist durch Warten nicht mehr verletzbar. Zu langes Warten hat ihn abgestumpft. Er weiß nicht, ob sie ihn aus Vergesslichkeit warten lässt, aus Gleichgültigkeit - oder ob es ein böses Spiel ist. Ein Machtspiel, um den Anderen zu demütigen und zu brechen. Nein, zu langes Warten hat ihn abgestumpft, und sie kann ihn damit nicht mehr treffen, der Pfeil wird ihn verfehlen, Klatt ist immun gegen die Folter des Wartens! Er weiß nicht wo sie ist, die Schrock; er weiß nicht, ob sie kommt, nicht, wann sie kommt! Er hat es akzeptiert! Abwesenheit der Schrock bedeutet Abwesenheit von Kälte und Demütigung. Er fürchtet nur die Fragen seines Kindes nach der Mutter, die er nicht schlüssig beantworten kann. Das Kind hängt an seiner Mutter, mehr, als an ihm. Und Klatt akzeptiert die Dinge so, wie sie sind. Klatt hat immer alles akzeptiert, hat sich ein- und untergeordnet bei der Familie Schrock. So war er nun einmal beschaffen und erzogen. Und etwas anderes als Unterordnung hätte es ohnehin nicht gegeben!

      Klatt meint, dass er sein Kind vernachlässigt. Es bereitet ihm Scham und Sorge. Aber er kann es nicht ändern, denn er hat keine Kraft. Er kann dem Kind sein Einkommen geben, nicht aber seine Kraft. Dennoch liebt er es. Er liebt es mit allen Fasern seines resignierten Wesens!

      Und das Kind scheint es zu verstehen. Es versteht viel zu viel für ein gerade erst eingeschultes Mädchen. Es weiß um Dinge, die man so lange wie möglich fernhalten sollte von Kindern. Auch das kann Klatt nicht ändern. Er hat diese Welt nicht gemacht! Er kann nicht allein an allem Schuld tragen!

      Klatt geht in die kleine enge Küche und schmiert dem Kind einige Schnitten. Er weiß, was es gern isst: eine bestimmte Art Mettwurst, die er immer vorrätig hat, Frischkäse mit Kräutern. Frisches Obst. Klatt schneidet Erdbeeren klein, in eine Schüssel. Gibt Zucker dazu und Milch, weil es das Kind gern mag. Die Erdbeeren, die ersten, die es in diesem Jahr im „Real“ gab, sind sehr groß, grell rot und wässrig. Sie schmecken kaum nach Erdbeere.

      „Alles künstlicher, wässriger Mist!“, würde Schrock höhnen: „So werden die Menschen betrogen!“ Klatt hat es oft von ihm gehört, immer wieder. Mit der Aggressivität eines fanatischen Wanderpredigers, dessen Rezept zur Rettung der Welt niemand hören will, hat er solche Kommentare oft von sich gegeben, während er Zigarette um Zigarette verschlang.

      Klatt ist es egal, ob die Erdbeeren wässrig sind. Er weiß, sie schmecken seinem Kind, und das zählt für ihn! Sie waren sehr teuer, diese ersten wässrigen Erdbeeren. Aber Klatt kann es sich leisten, sie für sein Kind zu kaufen. Und das erfüllt ihn mit tiefer Befriedigung, so als könne er damit etwas von dem wieder gutmachen, was seinem Kinde mitunter vorenthalten bleibt!

      Klatt bringt seiner Tochter das Abendessen in ihr Zimmer. Sie sitzt vor dem laufenden Fernseher auf dem Boden, auf ihrem Schafsfell. Ihre Augen leuchten. Klatt stellt die Mahlzeit auf den Schreibtisch und fährt ihr durchs weiche braune Haar. Es ist Haar wie seines, weich und glatt. Dann bringt er Nase und Mund ganz nah an den Kopf seines Kindes. Er nimmt die Fülle des warmen Kinderduftes, den das Haar seiner Tochter verströmt, in sich auf und schließt die Augen. Eine ungeheure Welle der Zärtlichkeit und des Beschützenwollens steigt mit fast schmerzhafter Intensität in Klatt empor, so dass er sich schnell losmacht. Es ist eine der wenigen Gesten der Zärtlichkeit, zu denen Klatt noch fähig ist. Zärtlichkeiten zeigen, heißt Verletzbarkeit zeigen, heißt, eine Blöße offenbaren, in die die Schrock die Dolchspitze setzen konnte: ihr Schweigen! Klatt schließt leise die Tür zum Kinderzimmer. Er weiß, dass es falsch ist. Er weiß, dass er das Kind abspeist, dass er sich wieder in seiner Schwäche und Resignation zurückzieht von seinem Kind und dem Fernseher seinen Part zuschiebt. Er weiß, dass ein Kind die Regelmäßigkeit der Mahlzeiten mit den Eltern, das Gespräch mit ihnen braucht. Aber er kann es nicht mehr. Er hat keine Ruhe mehr in sich, kein bisschen Ausgeglichenheit und Freude ist in ihm, so dass er oft ungerecht wird und launisch. Klatt ist so hilflos. Hilflos steht er der Verarmung des Miteinanders in der Familie gegenüber, einer Familie, die keine ist! Hilflos sieht er die Kontaktarmut mit an, die Verheerungen in seiner Seele und den verletzten Rückzug von jedermann. Aber er kann nichts ändern. Er ist wie ein Mensch mit gebrochenem Rückgrat, schwach, unfähig, selbstbestimmt zu handeln. Und eine Angst erfüllt ihn, Angst, etwas falsch zu machen, bei jeder Entscheidung, die er zu treffen hat. So gewöhnte er es sich ab, zu entscheiden. Er ist eine Marionette, willenlos, schwach. So lässt er die Dinge geschehen, und er nimmt sie hin, wie sich kommen. Dabei hilft ihm das Bier!

      Sein Kind isst in seinem Zimmer und sieht fern. Er, Klatt, sitzt im Wohnzimmer, trinkt Bier und sieht fern. Er hat zu viel und zu