Lena Dircks

Gelingende Literaturvermittlung


Скачать книгу

‚Boom’ von Lesungen ab, der mit der Erneuerung des literarischen Lebens nach der Wende sowie mit Umbrüchen auf dem Buchmarkt erklärt werden kann, die angesichts der zunehmenden Medialisierung und ‚Event‘- Kultur stattfanden.10 So entwickelten sich neue Formen von Lesungen in ausdrücklicher Absetzung des bildungsbürgerlichen Kulturlebens, z.B. Poetry-Slams oder Lesungen in Kneipen oder Clubs als Teil einer „urbanen Szenekultur“ 11. Zu Beginn der 2000er Jahre wurden zudem große Literaturfestivals wie das ‚internationale literaturfestival berlin’, die ‚lit.Cologne’ und das die Buchmesse begleitende Programm ‚Leipzig liest‘ mit großem Besuchererfolg gegründet.

      Lesungen und Lesereisen sind heute zu einem festen Bestandteil der Marketingstrategie der Verlage geworden. In jeder Großstadt findet täglich ein umfangreiches Programm statt, ob in Literaturhäusern, in Buchhandlungen oder in Kneipen – in den Provinzen gibt es diese ebenfalls häufig in Form von Festivals, wie z.B. das ‚Erlanger Poetenfest‘ oder das ‚Eifel Literaturfestival‘.

      2 Das Paradigma der Performativität

      ‚Performativität’ gilt für viele Wissenschaften als eine Art „umbrella term“ 12, als „allumfassender Begriff kultureller Konversation“ 13. Der Begriff fand Eingang in verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und entwickelte sich einerseits in seiner Bedeutung weiter, andererseits nahm er die erwähnte Bedeutungsbreite an. Die Ästhetik des Performativen von Erika Fischer-Lichte, auf welcher der Fokus dieser Arbeit liegt, nimmt immer wieder Bezug auf die Bedeutungsvielfalt des Begriffs der ‚Performativität.’ Um die Ästhetik des Performativen auf die Kunstform der Lesung anzuwenden, findet nachfolgend eine Konzentration auf jene Aspekte in dem von Fischer-Lichte entwickelten Paradigma statt, die den performativen Charakter von Kunstereignissen in aller Differenziertheit seiner Einzelaspekte beschreibt.

      Seit den 1960er Jahren ist in den Kultur- und Kunstwissenschaften, aber ebenso in der Kunstkritik und der Philosophie eine performative Wende festzustellen.14 Statt eines Kunstwerks, das losgelöst von seinem Schöpfer existiert, zeichnen sich performative Ereignisse dadurch aus, dass sie erst durch die gemeinsame Aktion von Künstlern und Publikum entstehen. Dies gilt für die Bereiche der Kunst, Musik, Literatur oder Theater: Statt unveränderlicher Kunstobjekte werden nun Aufführungen hervorgebracht. Dies sind so genannte Kunstereignisse, die erst durch die gleichzeitige Anwesenheit und durch das gemeinsame Handeln von Subjekten „erschaffen, in Gang gehalten und beendet [werden]“ 15.

      Es handelt sich um eine Kunst, die erst im Moment, in dem sie aufgeführt und von Zuschauern erlebbar wird, überhaupt ihren Kunstcharakter erhält.

      Erika Fischer-Lichte versucht in ihrer Untersuchung der Ästhetik des Performativen diese Entwicklungen zu beschreiben und eine kunstgattungsübergreifende Theorie zu entwickeln. Sie bezieht sich dabei nicht nur auf die Performance-Künste der 1960er und 1970er Jahre, die möglicherweise zuerst mit dem Begriff der ‚Performance’ assoziiert werden 16, sondern ebenso auf das Theater und andere Kunstgattungen.

      Bereits vor Beginn der „Performance-Kultur“ 17 der 1960er und 1970er Jahre macht Fischer-Lichte eine performative Wende in verschiedenen kulturellen Bereichen fest. Diese wurde befördert durch die Etablierung zweier wissenschaftlicher Fachrichtungen, in denen performative Handlungen und Aufführungen gegenüber dem Text an Wichtigkeit gewannen18: Zum einen begründete sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Theaterwissenschaften als eigenständiges Fach neben den Literaturwissenschaften. Statt das Theater als eine Form von Darstellung literarischer Texte anzusehen, die jedem Stück als Grundlage diente, beschäftigen sich die Theaterwissenschaften vor allem mit deren Aufführung, „die sich erst im Zusammenspiel von Akteuren und Zuschauern auf je einmalige Weise konstituiert“ 19.

      Zur gleichen Zeit wurde auch die Disziplin der Ritualforschung innerhalb der Religionsforschung begründet, in der der performative Akt in den Mittelpunkt rückte.

      Der Begriff ‚performativ’ wurde 1955 von dem Linguisten und Sprachphilosophen John L. Austin geprägt.20 Der Neologismus „performativ“ leitet sich aus dem englischen Wort „to perform“ – „vollziehen“ 21 ab. Austin geht in seiner Sprechakttheorie davon aus, dass durch sprachliche Äußerungen auch Handlungen vollzogen und nicht nur ein Sachverhalt beschrieben werden oder etwas behauptet wird.22 Äußerungen wie „Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau“23 oder „Ich taufe dieses Schiff auf den Namen ‚Queen Elisabeth‘“24 schaffen im entsprechenden Kontext neue Sachverhalte. Austins Ansatz formulierte nachdrücklich, „dass Sprechen eine weltverändernde Kraft entbinden und Transformationen bewirken kann“ 25.

      Damit ein performativer Sprechakt gelingt, müssen soziale und institutionelle Bedingungen erfüllt sein. Performative Akte werden nicht nur vollzogen, sondern auch vor einer sozialen Gemeinschaft aufgeführt. Fischer-Lichte beruft sich hier unter anderem auf den von Bourdieu hergestellten sozialwissenschaftlichen Kontext des Performativen.26 Auch in künstlerischen Performances geht es um Handlungen, die selbstreferentiell sind und Wirklichkeit konstituieren und damit „eine – wie auch immer geartete – Transformation [des Künstlers] und der Zuschauer [herbeizuführen vermögen]“ 27.

      3 Ästhetik des Performativen und ihre Merkmale nach Fischer-Lichte

      Ausgehend von ihren Untersuchungen zum Performativitätsparadigma entwickelt Fischer-Lichte eine Ästhetik des Performativen, in der sie sich vor allem auf zeitgenössisches Theater und Performance-Kunst bezieht, jedoch gleichzeitig den Aufführungsbegriff erweitert. Wie sich zeigen wird, ist die Ästhetik des Performativen auch auf andere Arten von Aufführungen anwendbar. Grundsätzlich beschäftigt sich diese Ästhetik mit Kunstereignissen, wobei der wichtigste Aspekt dabei das Zusammentreffen von Akteuren und Publikum und die gegenseitige Wirkung aufeinander bzw. die darauf resultierenden Effekte sind, die erst das Kunstereignis hervorbringen.

      Die Voraussetzung für das Stattfinden eines performativen Ereignisses bzw. einer Aufführung ist die gleichzeitige Anwesenheit von Akteuren und Zuschauern in einem Raum. Fischer-Lichte nennt dies leibliche Ko-Präsenz und bezieht sich dabei auf die Definition des Germanisten Max Herrmann vom Anfang des 20. Jahrhunderts: „Damit eine Aufführung stattfinden kann, müssen sich Akteure und Zuschauer für eine bestimmte Zeitspanne an einem bestimmten Ort versammeln und gemeinsam etwas tun.“ 28 Leibliche Ko-Präsenz geht hier über reine Anwesenheit hinaus. Auf den Aspekt der Präsenz wird im Kapitel zur Körperlichkeit noch näher eingegangen. Weitere Eigenschaften von Aufführungen sind nach Fischer-Lichte ihre Unwiederholbarkeit, Ereignishaftigkeit, Unvorhersehbarkeit und die sich ereignende Interaktion. Aufführungen sind immer performativ, da Handlungen vollzogen werden, die selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend sind.

       „In der Aufführung […] kommt es zu einer einmaligen, unwiederholbaren, meist nur bedingt beeinfluss- und kontrollierbaren Konstellation, aus der heraus etwas geschieht, das sich so nur dieses eine Mal ereignen kann – wie es eben unvermeidlich ist, wenn eine Gruppe von Akteuren mit einer Zahl von Besuchern mit unterschiedlichen Gestimmtheiten, Launen, Wünschen, Vorstellungen, Kenntnissen etc. zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort konfrontiert werden.“ 29

      Zudem sind Aufführungen – im Gegensatz zu traditionellen Kunstwerken – flüchtig und nicht fixier- oder tradierbar. „Sie erschöpfen sich in ihrer Gegenwärtigkeit.“ 30

      Bedingt durch die zunehmende Medialisierung der Kultur, rückte in den 1990er Jahren die Diskussion um leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern und ihre ‚liveness‘ besonders in den USA vermehrt in den Mittelpunkt. Das „Wirkpotenzial von Aufführungen“ 31 wurde mit ihrem Live-Charakter in Verbindung gebracht. Nach Philip Auslander ist das Bewusstsein für die Wirkung von ‚liveness‘ erst