Vladimir Pavic

Der Schauspieler im Maelström


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Bartholdy“ Leipzig und an den Schauspielstudios der Theater in Dresden und Weimar engagiert.

      Während meiner Tagebucheinträge stellte sich mir immer wieder die gleiche Frage: Wie erlangt man eine gewisse Spielruhe, ein Niveau der Gelassenheit auf der Bühne oder jene Schauspiel-Souverenität, die es einem erlaubt, die „geteilte Aufmerksamkeit“ entstehen zu lassen? Wenn ich genauer nachdenke, war das eigentlich schon ziemlich früh eine wichtige Frage während meiner Ausbildung, aber im „Diener“-Arbeitsprozess kam sie intensiver und häufiger als bisher ins Bewusstsein. Der Regisseur Heyme hat sie jedenfalls in besonderem Maße und, wie ich mir vorstelle, bewusst und lustvoll provoziert.

      Als ich mit meinem Mentor Prof. Gerhard Neubauer ein erstes Gespräch zur Diplomarbeit führte und ihm mein Grundproblem schilderte, empfahl er mir die Lektüre der Erzählung „Im Wirbel des Maelström“ von Edgar Allen Poe, in der ein Fischer mit seinem Boot auf der Suche nach reichen Fischfanggründen in einen gewaltigen Meeresstrudel gerät, aus dem er sich nur befreien kann, weil er nicht in Panik verfällt, sondern in gänzlicher Wachheit das ihn umgebende Chaos, bzw. todbringende Phänomen beobachtet und die Funktionsweise des Wirbels erkennt. Die rasche Nutzung dieser Erkenntnis rettet ihm schließlich das Leben.

      In meiner vorliegenden Arbeit möchte ich einen Bezug von meinen Erfahrungen aus der „Diener“-Schauspielarbeit zu den Phänomen eines Wirbels herstellen, wie er in Poes Erzählung geschildert wird, wobei ich die zerstörerische Wirkung eines meteorologischen Wirbels (Cyklone, Orkane, Tornados) oder eines todbringenden Meeresstrudels, wie er bei Poe beschrieben wird, hier ausblenden will. Mich interessieren im speziellen die auftretenden Kräfteverhältnisse, die Verwirbelungen im Wirbel, der Sog und, wie sollte es anders sein bei diesem Bild, das Geheimnis um das „Auge“ des Wirbels, die rätselhafte Mitte, in der alles zur Ruhe (?) gelangt.

      Ich im Wirbel der Inszenierung „Diener zweier Herren“

      Bevor ich den Kontext zur Inszenierung oder vielmehr zur Probenarbeit herstelle, möchte ich kurz auf den naturwissenschaftlichen Aspekt eines Wirbels eingehen und mich in einer Definition versuchen:

      Zwei Massen in flüssigem oder gasigem Aggregatzustand mit unterschiedlichen Temperaturen bzw. Druckverhältnissen wirken in einem komplexen Raum aufeinander, indem die wärmere die kalte durchdringen will und in Bewegung gerät. Der dadurch erzeugte Unterdruck lässt einen Sog entstehen. Diese Massenverschiebung synchronisiert sich, indem sie kreisförmig in eine Richtung strömt. In meteorologischer Hinsicht wird diese Bewegung durch die Erddrehung begünstigt, bei Meereswirbeln oder –strudeln in Küstennähe spielen naturgemäß Strömungen, die bei Ebbe und Flut auftreten, eine große Rolle. Allgemein gilt: Flüssigkeits- und Gassysteme sind nichtlineare Systeme, die sich durch zwei scheinbar komplementäre Eigenschaften auszeichnen: auf der einen Seite kann ihr Verhalten völlig unvorhersagbar sein, auf der anderen Seite sind sie in der Lage, spontan Muster zu bilden. Dieses Verhalten tritt aber nicht nur bei Flüssigkeiten und Gasen auf, sondern es gilt universell für völlig verschiedene nichtlineare Systeme. (1)

      In so einem „nichtlinearen (Ideen-)System“ befindet sich auch der Schauspieler, zum einen im Verhältnis zu sich selbst (Physis, Psyche, Bildung, Privatheit, etc.) und zum anderen seiner Umwelt, in unserem Fall, dem Ort der Arbeit, zu den Mitwirkenden (Regisseur, Ensemble, Assistenten, etc.), zum Stück (Autor, ggf. Übersetzung, Text, Sprache) und zur Inszenierung (Konzeption, Bühne, Kostüme, Spielstil, etc.).

      Die Masse der ersten Eindrücke

      Luxemburg als Probenort ist eine aufregende Sache. Zum ersten Mal im Ausland, zum ersten Mal an einem großen „Ding“ teilnehmend, zum ersten Mal freischaffend tätig sein. Die Enge meines Studios am Nationaltheater Weimar hinter mir gelassen zu haben verschafft mir ein Gefühl der Freiheit, erfüllt mich mit Stolz und lässt eine aufregende Aufbruchsstimmung in mir entstehen. Mein Bedürfnis, mich in dieses Abenteuer einzulassen, wird getragen von der Hoffnung, künstlerisch und persönlich von Hansgünther Heyme viel zu lernen, einen weiteren Flecken zu knüpfen, den man zu den bereits mühsam erworbenen hinzufügen kann, damit ein noch größerer Teppich entstehen möge.

      Vor der Konzeptionsprobe lasse ich mich von den oben beschrieben Gefühlen und Stimmungen tragen, doch mit Heymes Vortrag setzt ein enormes Lampenfieber ein. Der Bauch erwärmt sich, das Herz klopft im Hals und meine Aufmerksamkeit ist hündisch wach. Heyme schildert seine Eindrücke aus Madrid bei seiner „Kaufmann von Venedig“-Inszenierung. Er hätte den Spaniern das Leid bzw. die Katastrophe der Juden erst erklären müssen. Warum habe der Schauspieler des Shylock eine gelbe Pappnase zu tragen? Warum erinnere die Bühne an einen Duschraum? Usw. Bildungslücken oder Geschichtsignoranz? Die Juden-Diskussion in Spanien ist, geschichtlich motiviert, eine andere bzw. findet erst gar nicht statt. Heyme schildert deswegen so detailliert, weil die spanische „Kaufmann“-Inszenierung und unser „Diener“ konzeptionell eine Einheit bilden sollen, sozusagen ein Portrait Venedigs, seiner Geschichte, Menschen und Extreme. Auf die Frage, warum diese beiden Stücke im Zusammenhang gezeigt werden, antwortet Heyme im Programmheft der Ruhrfestspiele: „In beiden Stücken gibt es das Oben und das Unten. Gegen die Welt der Kaufleute Antonio und Pantalone stehen die Diener, bei Goldoni Truffaldino, Brighella, Smeraldina und viele andere, bei Shakespeare vor allem Lanzelot Gobbo. Das sind getretene Kofferträger einer kaputten Geldschicht. Die völlige Verschimmelung dieser Ebene, der Adelswelt, ist bei Shakespeare noch nicht so weit fortgeschritten wie 150 Jahre später bei Goldoni, wo sie bereits vollzogen ist. So wird beispielsweise im `Kaufmann´ die Gefahr gezeigt, dass Rechtssicherheit, Rechtssprechung unterlaufen werden kann, käuflich ist. Bei Goldoni gibt es überhaupt kein öffentliches Recht mehr. Geld ersetzt das Recht. Ohne Geld kein Recht.“ (2)

      Unser Spielort wird die stillgelegte riesige Gebläsehalle der ARBED-Stahlwerke in Esch (geschluckt von ArcelorMittal - mittlerweile größter Stahlkonzern der Welt), ein Ort im Süden Luxemburgs sein. Sie misst etwa 160m!!! in der Länge (das sind knapp zwei Fußballfelder hintereinandergereiht) und ist ganze 27m!!! hoch (etwa die Höhe des Hochhauses in München-Giesing, in dessen Schatten ich aufgewachsen bin). Ein allgemeines Raunen macht sich breit, entsetzte Blicke treffen in der Mitte des großen Tisches zusammen und lassen die alles entscheidende Frage sichtbar werden: „Wie sollen wir diesen Raum bespielen und besprechen?“

      Das Modell der Bühne, auf der beide Inszenierungen stattfinden werden, zeigt einen kühlen, sterilen, aseptischen Raum. Maßgeblich für diesen Eindruck sind ein grüngekachelter, glänzender Boden, ein verwirrendes System aus Messingrohren, sowie Schlachtervorhänge aus dickem, durchsichtigem Weichplastik. Den optischen Fixpunkt oder die Pointe des Raumes bildet eine grüngekachelte hochstehende Wanne, die von zwölf kleinen Wasserhähnen aus Messing und einem großen Silberhahn gespeist wird, eine Art Wasser-Altar, zweifellos ein delikates religiöses Bühnenbildmoment.

      Die Figurinen weisen auf Kostüme in Anlehnung an die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hin, eine Feydeau-Kostüm-Atmosphäre soll entstehen. Wir werden ohne Masken spielen.

      Nach der ausführlichen Vorstellung des Konzeptes haben sich alle Schauspieler nacheinander dem Ensemble vorgestellt. Zuallererst Ekkehard Schall. Er wirkt bescheiden, scheu, alt. Seine Rede - ruhig, klar, knapp, selbstbewusst und intelligent. Er verliert zwei Sätze über seine Vergangenheit. Schade, aber wir haben ja noch so viel Zeit. Er spricht von seiner Verantwortung für das ganze Stück, also nicht nur für seine Szenen. Er unterstützt Heymes Vorhaben, das Stück ohne Masken zu spielen, denn es gebe nichts Beengenderes für einen Schauspieler als eine Maske. Dieser Satz erstaunt mich, eröffnet eine Maske doch völlig neue Räume. Er beschreibt in kurzen Zügen seine Vorstellung der Figur und nimmt dabei Anlehnung an Dantes „Göttlicher Komödie“. Arrlecchino sei ein Teufel und kein geplagter, mitleiderregender armer Schlucker. Er spielt den Truffaldino.

      Peter Kaghanovitch erinnert in seiner äußeren Erscheinung an den italienischen Koch und Opernkomponisten Rossini. Wohl beleibt, eine sich prächtig schwarzlockende Haarpracht, ein vokalistisch lautes, nicht unmelodiöses Sprechorgan mit leichtem schweizer Akzent. Dieses Erscheinungsbild wird nochmals durch impulsiv großräumige Gebärden sympathisch belebt. Über dem