Vier Ausrufezeichen.
„An denjenigen, der anscheinend so wenig verdient, dass er sich noch nicht einmal eigene Fressalien leisten kann. Ich finde es unverschämt, dass auf dieser Etage jemand so dreist ist und in einer Woche gleich zwei volle Flaschen Punica klaut.“
„Diebe! Diebe! Diebe! Oh, wenn ich euch kriege!!!!“
„Wo bleibt der Anstand?“
Scholl niest. Ich öffne die Augen. Verreck, du Biest. Scholl quasselt weiter. Während er von Plänen und Optimierungsleistungen quatscht, denke ich an sein schickes, nur mit dem Notwendigsten ausgestattetes Büro. Der reinste Leichenkeller. Auf seinem Schreibtisch hat er das Porträtfoto einer unbekannten Schönen stehen. Sicher irgendwo gekauft. Es gibt mittlerweile Fotoagenturen, die sich darauf spezialisiert haben, Fotos schöner anonymer Frauen zu verkaufen. Jedes Foto wird pro Stadt nur einmal vergeben. Und so haben der Chef der Deutschen Bank in Frankfurt, der Abteilungsleiter der Firma Müller in Fulda und der 56-jährige Sozi in Düsseldorf alle ein und dieselbe Frau auf ihrem Schreibtisch stehen. Zu Hause aber sind sie so allein, dass sie die Hefte der Stiftung Warentest abonniert haben. Bevor sie etwas kaufen, muss es erst getestet worden sein. Am Liebsten säßen sie auch beim Italiener mit ihrem Testheft.
„Hast du das gelesen, Luigi, die Pizza Primavera hat das Qualitätsurteil gut bekommen. Im Test dreiundfünfzig Pizzas. Davon nur drei mit gut. Luigi, was ist denn bei euch Italienern los?“
Luigi lacht, denn er findet den Herrn Abteilungsleiter immer so witzig.
Zwischen Scholl und Kirchner hockt ein junger Praktikant. Er hat die Stirn in Falten gelegt und scheint ernsthaft zuzuhören. Wenigstens einer. Die Kirchner starrt ihn alle fünf Minuten einmal von der Seite an. Sie überlegt wohl, ob sie ihn sich in den nächsten Wochen mal zur Brust nehmen soll. Eine Affäre wäre immerhin ein Grund, überhaupt auf der Arbeit zu erscheinen. Tatsächlich stupst die Kirchner den Jungen zehn Minuten später an.
„Hey, passen Sie doch auf.“
Dann bedeutet sie ihm mit einem strengen Blick, dass er ihr Bein berührt habe. Oh ja, sie wird ihn rannehmen. Und wie. Keine Frage.
Ich sehe durch die Fensterscheiben. Draußen vor der Tür ist soeben der Fahrradkurier vorgefahren. Türen schlagen. Alles, was laufen kann, strömt auf die Straße, um den jungen, sportlichen Mann anzufassen, ihm den Brief abzunehmen und ein wenig zu flirten. Auch die Kirchner rutscht unruhig hin und her. Scholl verhaspelt sich und rückt die Brille zurecht. Ich nutze die Gelegenheit, um mit einem Stapel Blätter die aufgetürmten Kaffeetassen umzuhauen. Es klirrt und scheppert.
„Da war eine Fliege!“
Grabitzky klingelt nach der Sekretärin. Sie soll Kehrblech und Besen hereinbringen.
E
Das Bedürfnis der Jugend ist: sich selbst ernst nehmen zu können. Das Bedürfnis des Alters ist: sich selber opfern zu können, weil über ihm etwas steht, was e s ernst nimmt. (Hermann Hesse, Kultursendung)
Das Meeting ist aus. Mit irgendwelchen bedruckten Papieren schlurfe ich zurück an meinen Schreibtisch. Im Nebenzimmer berät Herr Mittermeier eine junge Frau.
„Und Frau Mayer, damit Sie es gleich wissen: Von Fortpflanzung halten wir ja hier gar nichts. Zumindest nicht jetzt. Und nicht von Ihnen. Wenn Sie mit Ihrem Gespusi, oder was das da sein soll, ein Kind in die Welt setzen wollen, dann denken Sie bitte daran: so eine Beziehung hält auch nicht ewig. Stellen Sie sich vor, der ist plötzlich weg. Dann sitzen Sie da allein. Nur Sie mit dem bisschen Geld. Und da können Sie dann froh sein, dass Sie im Büro so nette Kollegen haben. Und die können Sie auch jetzt schon haben, die netten Kollegen. Ohne Kind.“
Die Mittagspause verbringe ich auf der Straße. Nachdem ich mir ein Käsebrötchen und einen O-Saft geholt habe, schlage ich den Weg zur benachbarten Realschule ein, wo ich garantiert keinem der Kollegen begegnen werde. Ich gehe durch das blau gestrichene Tor auf den Schulhof. Die zweite Pause hat gerade begonnen und überall spielen und kreischen Jugendliche. Ich setze mich in die Nähe der Tischtennisplatten und genieße die Aussicht.
Viele süße Mädchen, die mit sich selbst oder den Jungs beschäftigt sind. Geschäfte und Büros sind meilenweit entfernt. Niemand hier ahnt, welch grausame Opfer die Hölle des Erwerbslebens fordern wird. Wüssten die Kinder es, würden sie auf der Stelle losziehen und sich selbst zerfleischen. Die Lehrer sitzen derweil im Lehrerzimmer, wo sie einen auf seriös und geschäftig machen müssen. Wobei jeder froh ist, wenn endlich die Pausenglocke läutet und er wieder zurück zur Jugend darf. Im Klassenzimmer werden dann faustdicke Lügen aufgetischt. „Ihr müsst später sehr hart arbeiten, Kinder. Sehr, sehr hart.“ Mumpitz. Die Lehrer sollten besser darauf vorbereiten, dass es nichts zu tun geben wird. Gar nichts. Zeit totschlagen, das ja. Aber arbeiten? Nein. Kann man nicht sagen. Wobei sich keiner wundern darf, wenn man statt der Zeit, diesem ominösen Etwas, lieber Körper totschlägt. Wie gut, dass man als Teenie andere Sorgen hat. Man prügelt sich, zerrt am Tornister, macht die letzten Schulaufgaben oder quatscht über Popmusik.
„Haben Sie die Frau Müller gesehen?“
„Was bitte?“
Einige halten mich offensichtlich für die Pausenaufsicht.
„Nein. Die Müller ist krank.“
„Wirklich?“
„Ja, wirklich. Die Stunde fällt aus.“
„Echt?“
„Ja, so echt wie echt. Die liebe Frau Müller ist diese und die nächste Woche nicht da. Todesfall im Nachbarhaus.“
Der Junge läuft weg. Eine Minute später jagen dreiundzwanzig Jungen und Mädchen laut kreischend durch das blaue Tor auf die Straße.
Ich stopfe den letzten Rest meines Brötchens in mich hinein. Als ich fertig bin, sehe ich, wie ein junges Mädchen auf mich zukommt. Die dralle, brünette Schülerin setzt sich an meine Seite.
„Hey.“
„Hey.“
„Was machst du hier?“
„Nichts. Pause.“
„Pause?“
„Ja. Ist doch ganz okay hier.“
Das Mädchen schaut mich mit großen Augen an. Um die Nase hat sie ein paar Sommersprossen. Unwillkürlich senke ich den Blick, mustere erst das T-Shirt über ihren Brüsten, dann ihre Jeans.
„Ich bin Nadine.“
„Schön. Ich heiße Peter.“
„Gut. Willst du was machen?“
„Was denn?“
„Willst du ins Bett?“
Ich sehe sie erschrocken an. Sie trägt noch eine Zahnspange.
„Soll ich darauf ehrlich antworten?“
„Klar!“
„Ja. Warum nicht?“
„Du willst mit mir ins Bett?“
„Ja.“
„Ich bin 14.“
Ich sehe sie ernst an.
„Hast du Lust zu küssen?“
„Jetzt?“
„Wann du willst.“
„Aber du hast doch gleich Unterricht.“
„Ja.“
„Wen hast du in der nächsten Stunde?“
„Hermann.“
„Gut.“
„Kennst du sie?“
„Nein.“
„Willst du mich nach der Schule abholen?“