Babett Weyand

Vom Sand in deinen Schuhen


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verurteilt. Aus einem vagen Verdacht wurde knallharte Realität.

      Stundenlang, wieder und wieder, hämmerte Harald die Symptome in die Tastatur seines Computers, um dann doch wieder und wieder entsetzt und fassungslos auf das Ergebnis seiner Suche zu starren. Die Antwort der allwissenden Internetgemeinschaft diktierte immer die gleichen fünf Buchstaben: Krebs! Ein simples Wort, das sich in seine Seele einbrannte, bis er entnervt und völlig aufgewühlt aufgab.

      Aber wie nur soll man sich denn auf diese zerstörende Diagnose vorbereiten? Wie kann der Umgang mit den zermürbenden Schmerzen, den Tränen und der eigenen Endlichkeit gelingen? Was tun, wenn das eigene Leben plötzlich aus den Fugen gerät? Oder war das doch nur die Quittung für seinen ausschweifenden Lebensstil?

      Er hockte entsetzt, aber gefasst, in diesem langweiligen, nichtssagenden Besprechungszimmer des Oberarztes der Onkologie und versuchte krampfhaft, aber unauffällig, den fetten Kloß, der sich in seinem Hals festgesetzt hatte, herunterzuschlucken.

      Harald blickte in die verständnisvollen und offenen Augen des Arztes, der seinen zweiten Frühling sicher auch schon etliche Jahre hinter sich hatte. Er schätze ihn auf Ende 50, wobei das krause, grau melierte Haar und die schwarze Hornbrille, diesen Eindruck noch verstärkten. Dieser Mann ruhte in sich, wie ein dicker Buddha im Lotossitz und doch hatte Harald das Gefühl, dass sich sein Gegenüber hinter seinem massiven Schreibtisch aus glänzend rotem Mahagoniholz versteckte. Die Fotos einer jungen lächelnden Frau mit goldblondem Haar waren ihm nicht entgangen. Sie muss wohl seine Frau oder seine Tochter sein, sicher war er sich aber nicht.

      „Ich liebe die Farbe von Klatschmohn. Die ist so lebensbejahend.“

      Unwillkürlich richtete der Arzt seinen Blick ebenfalls zu dem großen Bild an der rechten Wand.

      „Es ist von meiner Frau und ich liebe es.“

      „Sie hat Talent.“

      „Ja, das hatte sie wirklich.“

      „Sie hätte mit der Malerei nicht aufhören sollen.“

      „Nun, manchmal kann man sich den Lauf des Lebens nicht aussuchen. Aber lassen Sie uns nicht über die Werke meiner Frau sprechen, sondern über ihre Erkrankung.“

      Genau dies wollte Harald aber nicht!

      „Ich lege mein Schicksal in Ihre Hände, dann habe ich doch sicherlich ein Recht darauf, Sie zumindest ein wenig kennenlernen zu dürfen.“ Es sollte gar nicht so schnippisch klingen, wie es Harald herausplatzte.

      „Meine Frau ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben. Dieses Bild erinnert mich an die letzten gemeinsamen, unbeschwerten Tage mit ihr. Sie malte für ihr Leben gern und dieses Bild stammt aus ihren besseren Zeiten. Die Lebensfreude, die sie versprühte, spürt man auch auf diesem Gemälde.“

      „Erzählen Sie diese Geschichte jedem Ihrer Patienten?“ Harald glaubte ihm nicht. Skepsis mischte sich in das Gefühl, belogen worden zu sein.

      Und das nur, damit er sich auf das Elend, was ihn erwartete, einstellen sollte?

      „Nein, nur denen, die danach fragen. Mir ist wichtig, dass die Patienten begreifen, dass ich mit ihnen fühle. Ich kann sie verstehen, zumindest ansatzweise.“

      „Ich glaube Ihnen nicht. Ich glaube nicht, dass Sie das im Geringsten nachempfinden können. Die körperlichen Leiden und das Dahinvegetieren, die Symptome der Erkrankung, sind sichtbar und erklärbar, lassen sich in Büchern nachlesen. Aber die menschliche Tragödie, die sich in den Köpfen und in den Familien der Betroffenen abspielt, können Sie nicht nachvollziehen. Beim besten Willen nicht.“

      „Vergessen Sie nicht, ich bin Onkologe. Ich habe tagtäglich mit dieser Unheil bringenden Krankheit der Menschen zu tun. Jeder Patient erlebt seinen eigenen Schicksalsschlag völlig verschieden, aber bei Jedem trägt er den gleichen Namen: Krebs!“

      „Aber jeder Mensch ist anders und jedes Leben ist ein anderes. Alle miteinander zu vergleichen, erscheint mir vermessen.“

      „Ich will Sie nicht allein durch diesen Kampf schicken. Es wird hart werden, aber ich stehe jederzeit an ihrer Seite und das nicht nur, weil ich um die Schmerzen und das Leid weiß, welches Sie durchleben müssen. Ich sehe es als meine verdammte Pflicht an, jeden einzelnen Tag eine solide Stütze in Ihrem Kampf zu sein. Verlässlich und vertrauensvoll. Ich vergleiche Menschen nicht, ich begleite sie.“

      „Menschen kommen, Menschen gehen.“

      „Doch der Arzt bleibt.“ Aufmunternd nickte er zu Harald. Er liebte solche Gespräche, die eben nicht nur zart an der Oberfläche kratzten, sondern auch die Seele erschüttern können.

      „Aber eine Frage habe ich noch.“

      „Welche?“

      „Wie viele ihrer Patienten gehen aus diesem Kampf als Gewinner hervor?“

      „Wollen Sie sich tatsächlich mit Zahlen quälen?“

      „Ich brauch nur eine!“

      „Warum? Was versprechen Sie sich von dieser Information? Es bleibt, wie es ist, jeder Krankheitsverlauf ist anders. Pauschalisierungen helfen nicht weiter.“

      „Ich will nur wissen, ob mich neben der Gesundheit nun auch das Glück verlässt.“

      „Aber selbst wenn dem so ist, bleibt Ihnen immer noch die Freiheit. Freiheit, Ihr Leben selbstbestimmt zu leben, sogar in diesen Stunden, Tagen und Wochen.“

      „Ja, bleibt sie wirklich? Ich zweifle daran.“ Erneut wanderte sein Blick auf den knallig roten Klatschmohn an der Wand. Das Gemälde faszinierte ihn. Es strahlte eine Freude, eine Lebensenergie aus, die hier in diesem Raum kaum zu ertragen war. Aber was wäre denn, wenn ihm tatsächlich nur noch die Freiheit bliebe?

      Plötzlich waren für Harald die Worte des vor ihm sitzenden Arztes keine leeren Worthülsen mehr. Er verstand sehr gut, wie sein Gegenüber für seine Ehefrau gekämpft und gelitten haben musste, um sie am bitteren Ende doch gehen zu lassen. Er war gezwungen, sie los zu lassen und versteht nun, wie es sich anfühlt, zu verlieren.

      Der Buddha schaute ihn wehleidig und bedrückt an. Er fühlte mit ihm und war auf jede Art von Zusammenbruch vorbereitet, hatte sich gründlich auf Schock, Tränen und Geschrei vorbereitet. Doch in diesem Moment passierte nichts. Harald starrte ihn an und wartete. Es herrschte eine gespannte Ruhe zwischen ihnen. Dieser adrette und sensible Arzt amüsierte ihn. Das auf der Krankenakte abgebildete Ergebnis allerdings schockierte beide mehr, als Haralds äußere scheinbare Gelassenheit es erkennen ließ.

      Aber warum auch sollte er in Hysterie und Panik ausbrechen, wenn es an der vernichtenden Realität nichts mehr zu rütteln gab? Nur eine Frage brannte ihm im Kopf und verursachte immer stärker werdende Kopfschmerzen: Wie viel Zeit bleibt mir? Also stellte er sie. Schonungslose Offenheit hatte er sich selbst verordnet.

      „Es bleiben Ihnen drei Monate. Maximal. Sie befinden sich in einem fortgeschrittenen Stadium. Wir werden den Tumor trotzdem in einer Operation entfernen. Danach können wir mit der Chemotherapie noch in dieser Woche beginnen. Vorausgesetzt die Ergebnisse stimmen.“

      Das mitfühlende Gesicht seines Arztes erheiterte ihn irgendwie immer noch. Dieser hatte auf die nächste Schockreaktion gewartet, vergeblich. Es stiegen keine Tränen in Haralds Augen auf. Im Gegenteil, er war weiterhin die Ruhe selbst, so gar nicht einem Zusammenbruch nahe. Er kann nicht erklären warum, aber vielleicht wusste er es einfach schon. Geahnt und gespürt. Seine Zeit war begrenzt. Greifbar, am Schlusspunkt des irdischen Seins.

      „Mein kurzes, aber schönes Leben hat auch ein Ende. Hab wohl doch zu viel gesoffen in den letzten Jahren. Gehaltvolles Essen und süffiger Wein, gekrönt von gereiftem Grappa und einer köstlichen Zigarre, das ist wohl doch alles nicht so gesund. Aber lecker.“ Er bereute nicht eine Minute, nicht einen Bissen und erst recht kein Glas Wein. Das war sein Leben, geprägt von Genuss und Leidenschaft. Nun musste er wohl den Preis dafür bezahlen. Aber muss das nicht jeder einmal?

      „Wie sieht es mit meinen Genesungsaussichten aus?“ Innerlich