Stefan Zweig

Sternstunden der Menschheit


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Geschichte diese tragischen Augenblicke, daß, wo höchste Zusammenfassung aller geeinten Kräfte zum Schutze der europäischen Kultur notwendig wäre, auch nicht für eine Spanne die Fürsten und die Staaten ihre kleinen Rivalitäten niederzuhalten vermögen. Genua ist es wichtiger, Venedig zurückzustellen, und Venedig wiederum Genua, als für einige Stunden vereint den gemeinsamen Feind zu bekriegen. Leer ist das Meer. Verzweifelt rudern die Tapfern auf ihrer Nußschale von Insel zu Insel. Aber überall sind die Häfen schon vom Feinde besetzt, und kein befreundetes Schiff wagt sich mehr in das kriegerische Gebiet.

      Was nun tun? Einige der zwölf sind mit Recht mutlos geworden. Wozu nach Konstantinopel zurück, noch einmal den gefährlichen Weg? Hoffnung können sie keine bringen. Vielleicht ist die Stadt schon gefallen; jedenfalls erwartet sie, wenn sie zurückkehren, Gefangenschaft oder Tod. Aber – herrlich immer die Helden, die niemand kennt! – die Mehrzahl entscheidet dennoch für die Rückkehr. Ein Auftrag ist ihnen gegeben, und sie haben ihn zu erfüllen. Man hat sie um Botschaft gesandt, und sie müssen die Botschaft heimbringen, mag sie auch die bedrückendste sein. So wagt dieses winzige Schiff allein wieder den Weg zurück durch die Dardanellen, das Marmarameer und die feindliche Flotte. Am 23. Mai, zwanzig Tage nach der Ausfahrt, schon hat man längst in Konstantinopel das Fahrzeug verloren gegeben, schon denkt niemand mehr an Botschaft und Rückkehr, da schwenken plötzlich von den Wällen ein paar Wächter die Fahnen, denn mit scharfen Ruderschlägen steuert ein kleines Schiff auf das Goldene Horn zu, und als jetzt die Türken, durch den donnernden Jubel der Belagerten belehrt, erstaunend merken, daß diese Brigantine, die frecherweise mit türkischer Flagge durch ihre Gewässer gefahren, ein feindliches Schiff ist, stoßen sie mit ihren Booten von allen Seiten heran, um sie noch knapp vor dem schützenden Hafen abzufangen. Einen Augenblick schwingt Byzanz mit tausend Jubelschreien in der glücklichen Hoffnung, Europa habe sich seiner erinnert und jene Schiffe nur als Botschaft vorangesandt. Erst abends verbreitet sich die schlimme Wahrheit. Die Christenheit hat Byzanz vergessen. Die Eingeschlossenen sind allein, sie sind verloren, wenn sie sich nicht selber retten.

       Die Nacht vor dem Sturm

      Nach sechs Wochen beinahe täglicher Kämpfe ist der Sultan ungeduldig geworden. Seine Kanonen haben an vielen Stellen die Mauern zertrümmert, aber alle Sturmangriffe, die er anbefohlen, sind bisher blutig abgewiesen worden. Für einen Feldherrn bleiben nur mehr zwei Möglichkeiten, entweder die Belagerung aufzugeben oder nach den zahllosen einzelnen Attacken den großen, den entscheidenden Ansturm anzusetzen. Mahomet beruft seine Paschas zum Kriegsrat, und sein leidenschaftlicher Wille siegt über alle Bedenken. Der große, der entscheidende Sturm wird für den 29. Mai beschlossen. Mit gewohnter Entschlossenheit trifft der Sultan seine Vorbereitungen. Ein Festtag wird angeordnet, hundertfünfzigtausend Mann, vom ersten bis zum letzten, müssen alle festlichen Gebräuche erfüllen, die der Islam vorschreibt, die sieben Waschungen und dreimal am Tag das große Gebet. Was an Pulver und Geschossen noch vorhanden ist, wird zu forciertem Artillerieangriff herangeholt, um die Stadt sturmreif zu machen, die einzelnen Truppen werden für den Angriff verteilt. Von früh bis nachts gönnt sich Mahomet keine Stunde Rast. Vom Goldenen Horn bis zum Marmarameer, das ganze riesige Lager entlang, reitet er von einem Zelte zum anderen, überall die Führer persönlich ermutigend, die Soldaten anfeuernd. Aber als guter Psychologe weiß er, wie am besten die Kampflust der hundertfünfzigtausend bis zum äußersten zu entfachen ist; und so gibt er ein furchtbares Versprechen, das er zu seiner Ehre und Unehre auf das vollkommenste erfüllt hat. Dieses Versprechen rufen bei Trommeln und Fanfaren seine Herolde in alle Winde: »Mahomet schwört beim Namen Allahs, beim Namen Mohammeds und der viertausend Propheten, er schwört bei der Seele seines Vaters, des Sultans Murad, bei den Häuptern seiner Kinder und bei seinem Säbel, daß seinen Truppen nach der Erstürmung der Stadt unbeschränktes Recht auf drei Tage Plünderung gegeben wird. Alles, was in diesen Mauern ist: Hausrat und Habe, Schmuck und Juwelen, Münzen und Schätze, die Männer, die Frauen, die Kinder sollen den siegreichen Soldaten gehören, und er selbst verzichtet auf jeglichen Teil, außer auf die Ehre, dieses letzte Bollwerk des oströmischen Reiches erobert zu haben.«

      Mit rasendem Jubel nehmen die Soldaten diese wilde Verkündigung auf. Wie ein Sturm schwillt das laute Getöse des Jubels und der rasende Allah-il-Allah-Schrei der Tausende hinüber zur verängstigten Stadt. »Jagma, Jagma«, »Plünderung, Plünderung!« Das Wort wird zum Feldruf, es knattert mit den Trommeln, es braust mit Zimbeln und Fanfaren, und nachts verwandelt sich das Lager in ein festliches Lichtmeer. Erschauernd sehen die Belagerten von ihren Wällen, wie Myriaden von Lichtern und Fackeln in der Ebene und auf den Hügeln entbrennen und Feinde mit Trompeten, Pfeifen, Trommeln und Tamburinen den Sieg noch vor dem Siege feiern; es ist wie die grausam geräuschvolle Zeremonie heidnischer Priester vor der Opferung. Dann plötzlich aber um Mitternacht erlöschen auf Mahomets Befehl mit einem Schlage alle Lichter, brüsk endet dieses tausendstimmige, heiße Getön. Doch dieses plötzliche Verstummen und dieses lastende Dunkel bedrückt mit seiner drohenden Entschlossenheit die verstört Lauschenden noch furchtbarer als der frenetische Jubel des lärmenden Lichts.

       Die letzte Messe in Hagia Sophia

      Die Belagerten benötigen keine Kundschafter, keine Überläufer, um zu wissen, was ihnen bevorsteht. Sie wissen, der Sturm ist befohlen, und Ahnung ungeheurer Verpflichtung und ungeheurer Gefahr lastet wie ein gewittriges Gewölk über der ganzen Stadt. Sonst zerteilt in Spaltungen und religiösen Streit, sammelt sich die Bevölkerung in diesen letzten Stunden – immer erschafft erst die äußerste Not die unvergleichlichen Schauspiele irdischer Einigung. Damit allen gewärtig sei, was ihnen zu verteidigen obliege: der Glaube, die große Vergangenheit, die gemeinsame Kultur, ordnet der Basileus eine ergreifende Zeremonie an. Auf seinen Befehl sammelt sich das ganze Volk, Orthodoxe und Katholiken, Priester und Laien, Kinder und Greise, zu einer einzigen Prozession. Niemand darf, niemand will zu Hause bleiben, vom Reichsten bis zum Ärmsten reihen sich fromm und singend alle zum »Kyrie eleison« in den feierlichen Zug, der erst die Innenstadt und dann auch die äußern Wälle durchschreitet. Aus den Kirchen werden die heiligen Ikonen und Reliquien geholt und vorangetragen; überall, wo eine Bresche in die Mauer geschlagen ist, hängt man dann eines der Heiligenbilder hin, damit es besser als irdische Waffen den Ansturm der Ungläubigen abwehren solle. Gleichzeitig versammelt Kaiser Konstantin um sich die Senatoren, die Edelleute und Kommandanten, um mit einer letzten Ansprache ihren Mut zu befeuern. Nicht kann er zwar wie Mahomet ihnen unermeßliche Beute versprechen. Aber die Ehre schildert er ihnen, die sie für die Christenheit und die ganze abendländische Welt erwerben, wenn sie diesen letzten entscheidenden Ansturm abwehren, und die Gefahr, wenn sie den Mordbrennern erliegen: Mahomet und Konstantin, beide wissen sie: dieser Tag entscheidet auf Jahrhunderte Geschichte.

      Dann beginnt die letzte Szene, eine der ergreifendsten Europas, eine unvergeßliche Ekstase des Unterganges. In Hagia Sophia, der damals noch herrlichsten Kathedrale der Welt, die seit jenem Tage der Verbrüderung der beiden Kirchen von den einen Gläubigen und von den anderen verlassen gewesen war, versammeln sich die Todgeweihten. Um den Kaiser schart sich der ganze Hof, die Adeligen, die griechische und die römische Priesterschaft, die genuesischen und venezianischen Soldaten und Matrosen, alle in Rüstung und Waffen: und hinter ihnen knien stumm und ehrfürchtig Tausende und aber Tausende murmelnde Schatten – das gebeugte, das von Angst und Sorgen aufgewühlte Volk; und die Kerzen, die mühsam mit dem Dunkel der niederhängenden Wölbungen ringen, erleuchten diese einmütig hingebeugte Masse im Gebet wie einen einzigen Leib. Es ist die Seele von Byzanz, die hier zu Gott betet. Der Patriarch erhebt nun mächtig und aufrufend seine Stimme, singend antworten ihm die Chöre, noch einmal ertönt die heilige, die ewige Stimme des Abendlandes, die Musik, in diesem Raume. Dann tritt einer nach dem anderen, der Kaiser zuerst, vor den Altar, um die Tröstung des Glaubens zu empfangen, bis hoch zu den Wölbungen hinauf hallt und schrillt der riesige Raum von der unaufhörlichen Brandung des Gebetes. Die letzte, die Totenmesse des oströmischen Reiches hat begonnen. Denn zum letztenmal hat der christliche Glaube gelebt in der Kathedrale Justinians.

      Nach dieser erschütternden Zeremonie kehrt der Kaiser nur noch einmal flüchtig in seinen Palast zurück, um alle seine Untergebenen und Diener um Vergebung für alles Unrecht zu bitten, das er jemals im Leben gegen sie begangen habe. Dann schwingt er sich auf das Pferd und reitet – genau wie Mahomet, sein großer Gegner, in der gleichen Stunde – von einem Ende bis zum anderen die Wälle