Jan Neumann

FUNDAMENT


Скачать книгу

mpty-line/>

       Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Theatertexte finden Sie auf unserer Website www.kiepenheuer-medien.de

       © 2013 Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH

       Schweinfurthstraße 60, 14195 Berlin

      Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

      Sämtliche Rechte der öffentlichen Wiedergabe (u. a. Aufführungsrecht, Vortragsrecht, Recht der öffentlichen Zugänglichmachung und Senderecht) können ausschließlich von der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH erworben werden und bedürfen der ausdrücklichen vorherigen schriftlichen Zustimmung. Nicht genehmigte Verwertungen verletzen das Urheberrecht und können zivilrechtliche und ggf. auch strafrechtliche Folgen nach sich ziehen.

      ISBN 978-3-8442-7816-3

       Personen

      WOLFGANG RÖHRIG, ein Frührentner

      BENJAMIN ULLRICH, ein Student

      BETTINA LAUTERBACH, eine Angestellte

      MARIANNE KRÜGER-KAUFMANN, eine feine Dame

      DR. FRIEDRICH KREMM, ein Geschäftsmann

       EIN ERZÄHLER

      Außerdem: Ein Zugchef, ein junger Mann, Fahrgäste. Ute, Ole und Petra, und ein afrikanischer Stammeshäuptling. Günther, der Leiter des Kurses Blockaden lösen durch kreatives Malen auf Stoff und die Teilnehmer des Kurses Blockaden lösen durch kreatives Malen auf Stoff. Ein sterbender Vater, ein Pfleger und ein Arzt. Familie Dr. Kremm, die Angestellten der Werbeagentur Dr. Kremm, Dascha Golubeva, die kasachische Haushälterin von Dr. Kremm. Und im Fernsehen: Eine TV Journalistin, eine Universitätsprofessorin, ein Politiker, ein Psychologe, ein Nachrichten-sprecher.

      Dieser Text ist als Stückentwicklung im Auftrag des Staatstheaters Stuttgart entstanden und für zwei Schauspielerinnen und drei Schauspieler konzipiert. In der Fassung der Uraufführung war der Text des Erzählers auf alle fünf SchauspielerInnen aufgeteilt.

      Die Interpunktion folgt nicht den Regeln der Orthographie, sondern dem Rhythmus des Sprechens.

      ...dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.

      Hegel

       KAPITEL EINS

       DER LANGE LETZTE FLUG EINER STRASSENTAUBE

      ERZÄHLER Freitag im Frühjahr eines der Jahre, die vom Klimawandel längst geprägt sind. Spätnachmittag. Das Zentrum einer großen deutschen Stadt. Die Temperatur liegt mit zwanzig Komma vier Grad Celsius deutlich über dem jahreszeitüblichen Durchschnitt von dreizehn Komma drei Grad, was allerdings weniger dem Klimawandel als dem sich quer durch Mitteleuropa von West nach Ost erstreckenden Hochdruckgürtel zuzuschreiben ist, der alljährlich im Mai und September durch die Verlagerung des polaren Drucksteiggebietes südwärts und die des Schwerpunktes des hohen Luftdrucks von Asien hin zum Atlantik entsteht. Selbst die Ausnahme hat ihre Regel und ist weniger neu, als man denkt; und alles bleibt bestimmt von dem, was weit entfernt passiert. Der Himmel ist übrigens wolkenlos, später wird es ein schönes Abendrot geben, mit feurigem Leuchten kurz vor der Nacht.

      Die Uhr am Turm des Hauptbahnhofes jener deutschen Stadt zeigt mit hellen Zeigern exakt sechzehn Uhr zwei, als sich eine Taube der Art columbia livia forma domestica, im Volksmund auch Straßentaube oder Stadttaube genannt, vom flachen Dach eines Kaufhauses erhebt, um zu eben jenem Hauptbahnhof hinüber zu fliegen, der sich in vierhundertdreiundsechzig Metern Entfernung befindet. Die Taube ist weiblich, gut genährt und hat Hunger. Sie misst einunddreißig Zentimeter, ihre Augen sind klein und rot, das Gefieder felsgrau, durchsetzt von braunen Flecken. Ihr Kopf ist weiß.

      Sie unterbricht den Flug zum Bahnhof zwei Mal. Einmal lässt sie sich, kurz nach dem Start, auf dem Rand einer Regenrinne nieder, die unterhalb einer Reihe von Dachfenstern eines der wenigen letzten Wohngebäude der Innenstadt verläuft. Ein Mann mit Brille steht gerade, wie jeden Tag um diese Zeit, über das Sims gebeugt und schüttelt ein Tischtuch aus, ohne dass heute jedoch ein einziger Krumen aus ihm heraus auf das Schrägdach fallen würde, was dem Umstand geschuldet ist, dass er heute nicht zu Hause gefrühstückt hat. Im Zimmer läuft lärmend der Fernseher. Der Mann schaut melancholischer als sonst, was der Taube, würde sie Gesichtsausdrücke zu deuten wissen, auffallen würde. Da sie es aber nicht kann, vor allem aber wegen der fehlenden fallenden Krümel, erhebt sie sich wieder, siebenundvierzig Sekunden später (in denen sie mit gierig zuckendem Kopf und blöde blinzelnd die Rinne entlang getippelt war) in die Luft.

      Das zweite Mal landet sie gut zwei Minuten später und zweihundert Meter Luftlinie entfernt inmitten der Fußgängerzone vor einem am Boden liegenden Pommes Frites, das ein übergewichtiges Kind vier Minuten zuvor aus Ekel vor einem dunklen Fleck an der Spitze des frittierten Kartoffelstreifens weg geworfen hat. Gerade als die Taube danach pickt, tritt ein junger Mann mit bäuerlichem Gesicht, ein zusammengerolltes Transparent unter dem Arm, nach ihr, wütend, als störe sie ihn. Sie schlägt mit den Flügeln. Er tritt erneut, erwischt sie fast. Daraufhin setzt sie ihren Flug fort, entsetzt und seufzend, könnte man sagen, wenn man sagen könnte, dass Tauben seufzen, wenn sie entsetzt sind, was man wohl nicht kann.

      Sie steigt höher, unter ihr breitet sich die Stadt aus: Die Fußgängerzone, die Dächer und die auf den Dächern montierten Klima- und Lüftungsanlagen; Glaskuppeln, die Licht in das Innerste der Kaufhäuser lassen. Und weiter weg die Türme der Banken und Kirchen, und näher kommend: der Uhrenturm des Bahnhofs.

      Die Taube erreicht den Hauptbahnhof und die besagte Uhr oben am Turm, welche übrigens einen Durchmesser von fünfeinhalb Metern hat und nun sechzehn Uhr neun zeigt. Sie umkreist den Turm einmal.

      Da die Simse und Dachkanten mit Drähten zur Abwehr ihrer Art versehen sind, segelt die Taube ohne Halt weiter und in weichem weitem Bogen die seitlich am Gebäude liegende Parkanlage mit ihren vorsichtig grünenden Bäumen hinab, quert dann etwa die Hälfte der zahlreichen grauen Gleise, die einseitig in das Bahnhofsgebäude führen, bevor sie wieder einen Halbkreis Richtung Bäume vollzieht und am Gebäude entlang zurück zum Bahnhofsvorplatz fliegt.

      Im parallel zu der mit grob behauenen Muschelkalkquadern verkleideten Gebäudefassade vollzogenen Sinkflug begleitet sie wie zufällig die beiden Taxis, beide silberblank polierte Mercedes - oder Mercedesse? -, zweihundertzwanziger E- Klasse, neuestes Modell, die in diesem Moment die letzten Meter, ja Zentimeter rollend vor dem mittleren Eingang zum Stehen kommen.

      Die Taube landet seitlich auf dem Gehsteig, schlägt mit den Flügeln.

      Aus dem vorderen Wagen steigen eine Frau und ein Mann, aus dem hinteren eine Frau und zwei Männer, allesamt elegant gekleidet.

      Einer trägt Bart, eine Frau ist blond.

      Diensteifrig eilen die beiden südländisch aussehenden Fahrer um die Fahrzeuge herum, um die Rollkoffer aus dem Kofferraum zu hieven, eilig greifen die fremden Fahrgäste selbst zu, lassen sich nicht helfen, laden die schweren Gepäckstücke selbst aus, jedes zu zweit, behutsam fast, fünfzig Kilo pro Koffer, bestimmt.

      Die Taube steht still, äugt aus roten Augen, blinzelt und gurrt.

      Die Gruppe setzt sich in Bewegung, das Gepäck hinter sich her ziehend, Richtung Haupteingang. Es fällt auf, dass sie die Koffer nicht als Bürde mit sich führen, dass sie sie tanzen lassen fast, leicht und schön. Außer der Taube aber achtet nichts auf sie und niemand.

      Ein Windstoß, die Taube fliegt auf, erst hoch, dann wieder hinab und an den zur Seite geklappten Gittertüren vorbei durch das Mittelportal hindurch, hinein in den Bahnhof, vorbei an einem italienischen Café und einem türkischen Imbiss, durch die Vorhalle und alle Vorurteile hindurch, als wolle sie der Gruppe voraus fliegen, den Weg zeigen.

      Auf Werbefahnen rechts und