Christoph Laurentius Martin

Die Odyssee


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nach oben. Bitte Athene, die Tochter des Zeus, des Gottes der Aigis, sein Leben zu schonen; sie wird ihm sicher helfen. Und scheuch den alten Laertes nicht herum, er hat schon Kummer genug. Überhaupt ist der Stamm des Arkeisios bei den Göttern nicht derart verhasst, dass du befürchten müsstest, der eine, der das hohe Haus und die reichen Ländereien erben wird, bliebe dir nicht erhalten."

      Diese Worte beruhigten die Fürstin, der Kummer schwand, die Träne versiegte. Sie nahm ein Bad, wählte ein neues Gewand und stieg mit ihren Dienerinnen hinauf ins obere Stockwerk. Dort streute sie Gerste in die Opferschale und betete zu Athene:

      "Erhöre mich, Tochter des Zeus, des Gottes der Aigis, Unbezwingliche! Hat dir je der weltgewandte Odysseus auf dem Altar saftige Schenkel von Schafen und Rindern verbrannt, dann erinnere dich nun daran und rette seinen Sohn, schütze ihn vor den Freiern, diesen üblen Mistkerlen." So flehte sie schluchzend, und die Göttin erhörte ihr Gebet.

      Aber unten im Saal voller Schatten begannen die Freier wieder zu lärmen. Zum Beispiel spottete einer der Übermütigen:

      "Wie schön! Da bereitet sich unsere allseits hochverehrte Königin auf die Hochzeit vor und hat keine Ahnung, dass ihr Zukünftiger der Mörder ihres Söhnchens ist!" So redeten sie daher, ohne zu ahnen, dass Penelopeia ihre Pläne kannte.

      Doch da fuhr Antinoos sie an: "Spinnt ihr denn alle? Redet nicht so großspurig daher, sonst hört es noch jemand und verrät uns. Wenn wir unsere großen Worte je wahrmachen wollen, und da waren wir uns ja alle einig, dann haltet jetzt den Mund."

      Nach dieser Ermahnung wählte Antinoos zwanzig gute Männer aus. Sie gingen zum Strand, wo ein schnelles, pechschwarzes Schiff lag, zogen es ins Wasser und legten Mast und Segel hinein. Dann befestigten sie nach allen Regeln der Kunst die Ruder mit Riemen aus Rindsleder und zogen das weiße Segel hoch. Waffen und Rüstungen mussten ihnen ihre überaus motivierten Sklaven hinterhertragen. Dann verankerten die Freier das Schiff und gingen wieder ans Ufer, um dort ihre Mahlzeit einzunehmen und auf den Anbruch des Abends zu warten.

      Indessen lag oben in ihrem Gemach die sensible Penelopeia und konnte weder essen noch trinken, so aufgewühlt waren ihre Gefühle durch die Frage, ob ihr vortrefflicher Sohn dem Tod entrinnen oder den gewalttätigen Freiern in die Hände fallen würde. Wie eine Löwin, die, von einer Horde von Jägern eingekreist, ängstlich innehält und unschlüssig zu sinnen scheint, so überlegte sie, was alles passieren könnte - bis endlich erlösender Schlaf sie überkam und die Spannung ihrer Glieder löste.

      Und da dachte sich Athene, die Göttin mit den strahlenden Augen, wieder etwas Neues aus: Sie schickte ihr im Traum eine Frau, die wie Iphtime aussah, die Tochter des Ikarios und Gemahlin des Eumelos aus Pherai. Dieses Traumbild schickte Pallas ins Haus des göttlichen Odysseus, um Penelopeias ewigem Jammern und der immensen Tränenflut Einhalt zu gebieten. Es trat ein ins Schlafgemach durch das Löchlein, durch das der Riemen des Türriegels gezogen war, beugte sich über ihren Kopf und sagte:

      "Quält sich dein liebes Herz noch im Schlaf mit Sorgen, Penelopeia? Doch die, deren Dasein unbeschwert ist, die Götter, wollen nicht, dass du traurig bist und weinst. Dein Sohn wird zurückkehren, ist er doch in ihren Augen ohne Schuld."

      Und die gescheite Penelopeia - dämmernd im Halbschlaf, an der Pforte der Träume - gab ihr zur Antwort: "Was führt dich her, Schwesterchen, du bist doch sonst nie hier? So weit weg von hier wohnst du. Und jetzt befielst du mir einfach, ich soll meine Trauer vergessen, und meine Sorgen , die mir unaufhörlich und immer zahlreicher zu schaffen machen? Erst verlor ich meinen Gatten, der den Mut eines Löwen hatte und in vielem die Danaer überragte; edel und rechtschaffen war er, berühmt in ganz Hellas, erst recht aber in Argos. Nun ist auch noch mein geliebter Sohn mit dem Schiff in die Ferne gezogen, dabei ist er noch ein Kind, ahnungslos und ohne jede Erfahrung. Er dauert mich mehr als mein Mann, und ich zittre und bange, was ihm alles zustoßen könnte auf dem Meer oder bei den Menschen, denen er begegnet. Und auf seinem Heimweg will eine ganze Gruppe feindlicher Männer ihm ans Leben, sie wollen ihn tatsächlich töten."

      Das fahle, undeutlich dunkle Traumbild erwiderte: "Sei getrost, sei guten Muts und fürchte dich nicht. Ihm steht nämlich eine Gefährtin zur Seite, deren Beistand schon mancher starke Mann herbeisehnte: die mächtige Pallas Athene. Sie weiß um deine Sorgen und hat Mitleid mit dir; sie ist es auch, die mich geschickt hat, dass ich es dir sage."

      Und Penelopeia fragte geistesgegenwärtig: "Wenn du ein Gott bist, oder zumindest auf die Stimme eines Gottes hörst, dann verrate mir doch schnell, wie es um den Beklagenswertesten steht, ob er noch lebt und die Strahlen der Sonne ihn wärmen oder ob er tot ist und drunten im Haus des Haides wohnt."

      Aber das fahle, undeutlich dunkle Traumbild erwiderte: "Nein, über ihn kann ich dir leider nichts sagen, weder ob er lebt, noch ob er tot ist. Es ist nicht gut, windiges Zeug zu schwatzen."

      Nach diesen Worten entschwand das Traumbild durch das Löchlein, durch das der Riemen des Türriegels gezogen war, und löste sich in Luft auf. Die Tochter des Ikarios fuhr aus dem Schlaf; ihr Herz war wieder voll Freude, so hell und klar war der Traum gewesen, der im Dunkel der Nacht zu ihr gekommen war.

      Indessen waren die Freier längst an Bord gegangen und hatten die Wasserstraßen durchkreuzt, mit nichts anderem im Sinn als Mordgelüsten gegen Telemachos. Mitten in der Durchfahrt zwischen Ithaka und der felsigen Insel Samos lag die kleine Insel Asteris. Es gab dort eine Bucht, aus der man nach beiden Seiten rasch ausfahren konnte. Dort versteckten sie sich und warteten.

      Kapitel 5: Olympos - Kalypso

      Von ihrem Lager an der Seite des gewaltigen Tithonos erhob sich Eos, Licht den Unsterblichen zu bringen wie auch den Sterblichen. Die Götter kamen zur Beratung zusammen, in der Mitte Zeus, der Himmelsdonnerer, der der Mächtigste unter ihnen ist. Athene, die sich auffallend stark mit Odysseus beschäftigte, erinnerte die Runde zum wiederholten Male daran, was er schon alles durchgemacht hatte. Ihr passte überhaupt nicht, dass er sich im Domizil einer hübschen Nymphe aufhielt. Sie sagte:

      "Vater Zeus und ihr anderen ewig Unsterblichen! Da soll doch nie wieder ein wohlwollender, sanfter König das Zepter tragen, einer mit Sinn für Gerechtigkeit. Nein, grausame, verbrecherische Despoten haben die Sterblichen verdient! Keiner denkt mehr daran, dem göttlichen Odysseus dafür zu danken, dass er wie ein gütiger Vater über sein Volk herrschte. Auf einer Insel, im Bett der Nymphe Kalypso, muss der Arme nun liegen, und das bekommt ihm nicht gut. Sie setzt alles daran, ihn an sich zu ketten. Er hat auch gar keine Chance, wieder auf heimatlichen Boden zu gelangen, da er weder Schiffe und Ruder, noch Gefährten hat, die ihn übers weite Meer ins Land seiner Väter bringen könnten. Und jetzt soll auch noch sein geliebter Sohn ermordet werden, der gerade auf der Rückreise ist. Er hat sich nämlich nach Pylos und ins schöne Lakedaimon aufgemacht, um nach seinem Vater zu forschen."

      Aber Zeus, der die Wolken auftürmt, sagte: "Mein liebes Kindchen, was plapperst du da! War das nicht deine eigene Idee, hast du nicht selbst die Dinge ins Rollen gebracht, damit am Ende Odysseus heimkehren und die bösen Freier bestrafen kann? Na, dann sieh mal selbst zu, wie du es hinkriegst, dass Telemachos wohlbehalten nach Hause kommt und die Freier auf ihrem Schiff als Versager in Ithaka einlaufen."

      So hatte er gesprochen; und zu seinem geliebten Sohn Hermes gewandt fügte er hinzu: "Hermes, du bist doch als unser Bote eingearbeitet, geh doch mal zu diesem Nymphchen mit ihren hübschen Löckchen und sag ihr, die Götter hätten unumstößlich beschlossen, dass Odysseus, der schon so vieles durchstehen musste, nun heimfahren soll. Allerdings ganz auf sich gestellt, ohne jede Unterstützung von Göttern oder Menschen. Er soll ruhig noch ein wenig leiden. Auf einem zusammengezimmerten Floß mag er am zwanzigsten Tag die fruchtbare Insel Scheria erreichen, das Land der Phaiaken, die mit uns Göttern verwandt sind. Sie werden ihn absolut korrekt und herzlich aufnehmen und ihn per Schiff in sein geliebtes Heimatland bringen. Einen Haufen Eisenzeug, Gold und Kleider werden sie ihm schenken, mehr als er aus Troja mitgebrachte hätte, wäre er unversehrt und ohne Verluste mit seiner Kriegsbeute heimgekehrt. Denn seine Bestimmung ist, die, die er liebt, wiederzusehen, sein Haus und seine Heimat."

      Und Hermes, der zuverlässige Götterbote, hatte keinerlei Einwände; an die Füße band er sich seine schimmernden,