Maxima Hampel

Bad Human


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„es hat funktioniert. Hätte aber auch daneben gehen können. Doch du hast recht, Ethan. Es ist ein gutes Beispiel, und es war alternativlos. Ungleichgewicht hätte den Kapitalismus zu Erpressern und den Kommunismus zu Erpressten gemacht. Wer kann mir ein aktuelles Beispiel für fehlendes Gleichgewicht nennen?“ Dieses Mal schiesst keine Hand nach oben. Und es findet sich auch keine Hand, die sich nur zögerlich und mit kleinen unsicheren Trippelschritten den Weg nach oben sucht. Es findet sich genau keine Hand, die bereit ist, sich zu melden. In unserer Klasse voller junger, enthusiastischer und wissbegieriger Rekruten des British World Service hat das eine hohe Aussagekraft. Denn keiner von uns hat einen IQ von unter 130. Mr. Smith scheint diesen Moment auszukosten. Er lässt seinen Blick durch die Klasse schweifen. Von links nach rechts, dann wieder zurück von rechts nach links. Von vorne bis hinten und wieder zurück nach vorne. Er lächelt. Ein ganz klein wenig provokativ. „Keiner von euch eine Idee?“ Wir sind nicht die Art von Klasse, die ernsthafte Fragen mit dummen Witzen beantwortet. Wir haben gelernt, dass alles seine Zeit hat. Und wir haben gelernt, ganz genau nachzudenken, bevor wir reden. Es ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, die Zeit des anderen nicht mit Unnötigem oder gar mit Dummheit zu vergeuden. Und es sieht so aus, als sähe sich keiner von uns dazu im Stande, eine kluge und konstruktive Antwort beizutragen. „A-me-ri-ca first.“ Mr. Smith betont die Worte mit Genuss, Genauigkeit und Drama. Nicht zu viel. Und nicht zu wenig. „Was fällt den jungen Herren und Damen zu diesen Worten ein?“ Auch dieses mal schiessen oder kriechen keine Hände in die Höhe. Nicht, weil die Frage zu schwierig ist. Das genaue Gegenteil ist der Fall, und niemand von uns will den Eindruck erwecken, durch die Beantwortung einer derart leichten Frage Wissen vorzutäuschen. Schliesslich und ohne sich vorher zu melden, fragt Brian aus der ersten Reihe: „Trump, das ist uns allen klar. Und wer ein solches Übergewicht hat, dem fehlt es natürlich an Gleichgewicht. Aber ich fürchte, ich erkenne die politische Dimension nicht, auf die Sie sicher anspielen.“ Nun also doch ein dummer Witz, wenn auch klug verpackt. Mr. Smith verzieht den rechten Mundwinkel um einige Millimeter. Was man aber nur erkennt, wenn man ganz genau hinschaut. Lächeln in homöopathischer Dosis nennen wir das. Mit langsamen Schritten positioniert er sich genau in der Mitte des Klassenzimmers. Mit Bedacht und ohne Hetze oder Emotionen nimmt er zwei Atemzüge und setzt dann zu seiner Erklärung an: „Während sich der Kommunismus als Gegenentwurf zum Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten nahezu auf der gesamten Welt bis zur Bedeutungslosigkeit abgeschafft hat, hat der Kapitalismus vereinzelt sehr bizarre Blüten hervorgebracht. Donald Trump, der heutige Präsident der Vereinigten Staaten, ist ein gutes Beispiel dafür. Als Geschäftsmann, der seine erste Millionen von seinem Vater geschenkt bekam, glänzt er weder durch intelligente Strategie noch durch atemberaubende Erfolge. Seinen im US-Wahlkampf als Argument benutzten milliardenschweren Reichtum kann er nicht belegen. Für Fleiss ist er ebenso wenig bekannt wie für ehrliches Geschäftsgebaren. Schlagzeilen hat er auch vor seiner Präsidentschaft nur mit grossmäuligen Versprechungen ohne jegliche Substanz gemacht. Durch von ihm angepriesene Investments haben Tausende von Anlegern Milliarden von Dollar verloren. Meine jungen Herren, verstehen Sie mich nicht falsch. Gegen den Kapitalismus ist nichts einzuwenden, gegen einige seiner zu Krebsgeschwüren mutierten Vertreter allerdings sehr wohl. Eine starke Nation wie die USA hält derart charakter-, stil- und skrupellose Geschäftemacher ohne Probleme aus. Gefährlich wird es erst, wenn ein solcher Mensch die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewinnt und nicht davor zurückschreckt, die Position des mächtigsten Mannes der Welt zu seinem eigenen geschäftlichen Vorteil zu nutzen. Er unterhält Verbindungen zu korrupten Partnern und Geschäftsbeziehungen zu Gewaltherrschern auf der ganzen Welt. Als privater Geschäftsmann hat er millionenschwere Schulden bei Staaten und Regimen, die Feinde jener Regierung sind, die er in seiner offiziellen Funktion als Präsident vertritt. Er verbindet Geschäft und Politik in einer Weise, deren geringste Übel noch die Abwesenheit von Scham und Moral sind. Seine unstillbare Gier nach dem eigenen Vorteil ist eine Gefahr für die USA und die gesamte Welt.“ Mr. Smith schweigt. Wir schweigen. Und da gerade in diesem Moment auch kein anderes Geräusch zu hören ist, erweckt es fast den Eindruck, als schwiege ganz London. Mr. Smith ist ein Meister des Redens, ein Meister des Schweigens und ein Meister darin, für beides die richtige Zeit und die wirkungsvollste Dosis zu erkennen. Wir hatten uns gerade in eine kollektive Lähmung geschwiegen und aus Furcht vor unangebrachter Ruhestörung selbst das Atmen eingestellt, als Mr. Smith den genau richtigen Moment findet, die Stille mit einem silbenverliebt, sehr sorgfälltig betonten Wort zu beenden: „Gleichgewicht.“ Wir nutzen diesen kurzen Moment zum Atmen. Denn als gute Schüler dieses hervorragenden Lehrers erahnen wir bereits die nächste Pause. Mr. Smith schaut uns in die Augen. Jedem von uns. Der Reihe nach. Als würde kein nervöser Zeiger uns Sekunde und Sekunde von unserer Lebensuhr abziehen. Mit aller Zeit der Welt schaut er jedem von uns so tief in die Augen, als könne er zwei Zentimeter dahinter unsere Gedanken von einem Teleprompter ablesen. „Ohne Gleichgewicht wird es einseitig und brandgefährlich. Darum haben wir vom British World Service es uns zur Aufgabe gemacht, Ungleichgewichte zu suchen und durch kleine Änderungen oder Eingriffe zu korrigieren. Wenn sie klug ausgedacht sind, können schon kleine Aktionen sehr grosse Wirkung erzielen. Idealerweise sind diese Aktionen so klein, dass kaum jemand sie wahrnimmt. Im Gegensatz zu ihren Folgen.“ Gebannt durch seine Worte, habe ich dieses Mal unwillkürlich die Luft angehalten, bis Mr. Smith zu mir sagt: „Sie könne jetzt wieder atmen. Die Stunde ist hiermit beendet.“ Ich bleibe noch einen Moment sitzen und beobachte unseren Lehrer dabei, wie er zu seinem Schreibtisch zurückgeht und seine Unterlagen durchblättert. Ich packe meine Sachen ein und stehe von meinem Platz auf. Sobald ich meinen Rucksack über die Schulter geworfen habe, streiche ich mein weisses Hemd glatt. Hier im BWS trägt jeder das Gleiche: weisses Hemd, dazu eine schwarze Anzughose, und für besondere Tage haben wir ein passendes Jackett. Unser Outfit wird durch unsere graue Krawatte und die braunen Budapester abgerundet. Stil ist unser Markenzeichen. Eines davon. Ein anderes ist, dass niemand unsere Markenzeichen kennt. Denn wir und unsere Arbeit sind für die Weltöffentlichkeit unsichtbar. Nicht einmal der MI6 weiss über uns Bescheid. Wenn man mich fragt, ist da einiges schiefgelaufen. Der offizielle britische Geheimdienst hat das Gefühl, Bescheid zu wissen, nur weil er im Zweiten Weltkrieg mit Erfolg den Verschlüsselungsmechanismus der deutschen Geheimbotschaften geknackt hat. Genau genommen ist dieser Erfolg nicht dem Mi6 zuzuschreiben, sondern einer einzelnen Frau. Einer Frau, die damals vom BWS ins MI6 eingeschleust wurde. Also kam noch nicht mal dieser Erfolg wirklich vom Secret Intelligent Service. Aber das ist eine andere Geschichte.

      Kapitel 3

      April Ich wickle mir eine Haarsträhne um den Finger. Mrs. McCarthy hält mal wieder einen Vortrag über irgendwelche Zusammensetzungen von irgendwelchen Molekülen, die in Verbindung mit irgendwelchen anderen Molekülen irgendetwas Neues ergeben. Eigentlich sollte ich zuhören und mir die Sachen merken, denn an meiner Abschlussprüfung komme ich nicht vorbei. Letztendlich gebe ich es auf und schweife mit den Gedanken ab. Ich kann mich heute nicht konzentrieren. Ich denke an mein Bücherregal zu Hause und daran, wie gerne ich jetzt dort wäre, um meine Nase in eines meiner Bücher zu stecken. Und wenn ich näher darüber nachdenke, muss es auch gar kein Buch aus meinem Bücherregal sein. Die Bibliothek unserer Schule würde mir reichen. Eigentlich bin ich nicht der Typ Mädchen, der ständig Mist baut und Regeln missachtet. Im Gegenteil, ich bin mit Regeln aufgewachsen, und würde es normalerweise gar nicht wagen, etwas Unerwünschtes oder gar Verbotenes zu tun. Aber heute ist das irgendwie anders, und ein unsichtbares Navigationssystem dirigiert mich aus dem Klassenzimmer, während ich im Vorbeigehen die Toilettenausrede in Mrs. McCarthys Richtung murmle. Wenige Minuten später befinde ich mich in der Bibliothek. Bücher hatten mich schon immer beeindruckt. Und eine ernsthaft grosse Menge an Büchern hatte mich schon immer in einem ernsthaft grossen Mass beeindruckt. Seitdem ich lesen kann, ist das so. Und ein Gefühl sagt mir, dass sich das bis an mein Lebensende nicht ändern wird. Bücher geben mir das gute Gefühl, mir auf ehrliche und herkömmliche Weise Wissen anzueignen. Ob es eine unehrliche Weise gibt? Ich weiss es nicht, um ehrlich zu sein. Ich weiss nur, dass ich zu Wissen ein gespaltenes Verhältnis habe, dessen Ursache ich nicht erklären kann. Manchmal glaube ich, nahezu körperlich spüren zu können, wie sich in meinem Gehirn einzelne Erfahrungen zu neuen Wissensinseln vernetzen. Ich kann darin nichts Unnormales erkennen, und trotzdem fühlt es sich so an, als sei es eben das: unnormal. Ich stelle mir das Verhältnis von Wissen und Gehirn so vor wie die Räume eines Hauses und die Einrichtungsgegenstände,