Birte Pröttel

Hau ab! Flüchtlingskind!


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      Wir schlummern auf unserer Bank. Plötzlich knallt die eiserne Kellertüre auf und meine Tante Charlotte wankt herein, sinkt auf den kalten Boden aus gestampfter Erde. Ihre dunklen Locken kleben blutgetränkt um ihr Gesicht, ihr eleganter grauer Tuchmantel ist voll Erde, Gras und Schlamm.

      „Jetzt jagen sie Menschen wie die Feldhasen, es ist eine Schweinerei!“, schimpft ein alter Mann mit hoher Fistelstimme. Große Aufregung, die Erwachsenen knallen fast mit den Köpfen zusam­men, als sie sich über die Frau beugen. Alles schnattert durcheinander. Wir brauchen einen Arzt. Tante Charlotte krümmt sich vor Schmerzen. Sie wollte noch schnell in den rettenden Keller und wurde von Bombensplittern getroffen. Aber Tante Charlotte ist nicht tot. Hell­wach schießen auch wir von unseren Plätzen hoch. Neugierig wie Leute, die auf der Autobahn einen Unfall beglotzen, drängen wir uns zwischen die Großen. Sie starrt mich mit ihren grauen Augen an, weint nicht, ist ganz still.

      „Warum guckst du so, Tante Lotte?“, sie antwortet mir nicht. Ich wundere mich, sonst ist sie nämlich immer sehr nett zu mir.

      „Wir müssen warten, bis der Alarm vorbei ist!“ Tante Lotte rollt sich auf die Seite und wimmert leise. Niemand sagt was. Mir wird lang­weilig. Ich hocke mich wieder auf die Bank. Später erzählt Mutter uns, dass Tante Charlotte sieben Gra­natsplitter im Rücken hatte. Eine Operation hat sie aber gerettet.

      Während sich noch alles um unsere Tante kümmert, gibt es einen oh­renbetäubenden Lärm. Der Keller, nun notdürftig von Taschenlampen erhellt, scheint zu wackeln und zu beben.

      „Wie sind getroffen!“ schreien die Erwachsenen und klammern sich er­schreckt aneinander und wir schlüpfen wie Küken unter Mamas Mantel.

      Einer der wenigen Männer, die bei uns und nicht im Krieg waren, öffnet vorsichtig die Kellertür. Schutt fließt über seine Füße und Staubwolken vernebelten den Keller.

      „Oh, Gott!“ Schnell stemmt er sich gegen die Tür und legt den eisernen, quietschenden Hebel um, der sie sicher verschließt.

      „Alles brennt draußen. Wir müssen drinnen bleiben!“

      „Mein Gott, wir sind in einem Backofen!“Meine Erinnerung an diese Bombennacht ist eigentlich ziemlich dürftig. Am nächsten Morgen, als wir drau­ßen knietief in qualmendem Geröll und zwischen Mauerstücken stehen, klagt Mutter:

      „Wir sind ausgebombt!“

      Die Rückseite unseres Hauses ist weg. Die Räume sind offen wie Pup­penstuben. Ich bin begeistert, es sieht einfach toll aus. Die Küche mit den bun­ten Kacheln, daneben das Zimmer von Emma, unserem Kinder­mädchen. Es ist wie in einer Möbelausstellung. Über Emmas Bett schau­kelt das Kruzifix, das ich immer mit Schauern betrachte. Ein toter Mann auf einem Kreuz. Nun ist er staubig und geholfen hat er auch nicht. Emma glaubt aber doch, denn ohne den Toten am Kreuz wäre alles viel schlimmer gekommen, flüstert sie und bindet sich ihre Kittelschürze fest. Mutter ist ganz steif und still und streicht sich eins ums andere Mal die verschwitzten Haa­re aus dem Gesicht.

      „Sag, dass das ein böser Traum ist!“

      Nun haben wir eine eigene Ruine, es ist zwar keine Burgruine, aber im­merhin. Wir tasten uns vorsichtig in unsere Wohnung. Mutti will das Nötigste ho­len. Aber das interessiert mich nicht weiter. Doch eines ist mir ins Gedächtnis gebrannt: Arnes Tasse.

      Ich war so eifersüchtig, als er die Tasse wenige Tage zuvor zum Geburtstag bekommen hat­te. Ich hätte ihm gegönnt, dass die Tasse auch ausgebombt worden wäre, aber nein, sie steht da wie zum Hohn. Mit Goldrand! Ob wir die schöne Goldrandtasse mitgenommen, oder ob sie gar die Flucht überstanden hat, weiß ich nicht. Wenn sie meine gewesen wäre, ich hät­te mich nie von ihr getrennt.

      … Maikäfer flieg...

      H

       Mutter in ihrer schönen Wohnung in Stettin

      Großvaters Schatz

      Ich war schon immer eine Sachen- und Schatzsucherin. Jetzt im Oma-Alter sind allerdings Hausschlüssel und Brillen Objekte meiner Begierde. Auslöser dieser permanenten Schatzsuche ist sicher mein Großvater Hermann. Als Mutter mit uns längst auf der Flucht war, ist er in Stet­tin geblieben. Die blank polierte Glatze war sein Markenzeichen.

      Er hat eine Dienstwohnung in einer großen Behörde an der Hakenterrasse. Die russischen Truppen kommen näher. Großvater harrt im März 1945 so lange aus, bis die Stadt auf Anordnung der Militärs geräumt werden muss. Und je näher der Russe kommt, desto fester ist sein Entschluss, die Wertsachen zu verstecken. Sie sollen auf keinen Fall den Russen in die Hände fallen.

      Wenn wir später mal so gemütlich Anekdoten aus alten Zeiten vor kramen, wird Großvater regelmäßig wegen der Sache mit dem Schatz Zielscheibe des Familienspotts. Er hatte nämlich einen Schatz vergraben, und jedes Mal, wenn davon erzählt wird, nennt ihn Großmutter Martha einen Dummkopf. Er zieht sich dann zurück, kriecht halb in sein Radio und lernt die Nachrichten auswendig:

      „Konnte ja keiner wissen, dass der Krieg so lange dauert.“ brummelt er.

      Die Sache war die: Er war allein, verbrachte schließlich fast jede Nacht bei Fliegeralarm auf dem Dach, um die Brandbomben zu löschen.

      Schließlich packte er Schmuck, Silber, Ketten und Goldstücke in eine große Truhe, buddelte im Fußbo­den in der riesigen Eingangshalle der Versicherungsanstalt ein großes Loch und versteckte dort den „Schatz“. Aber da Großvater ein praktisch den­kender Mann war, dachte er:

      „Was soll man mit silbernen Gabeln, wenn man nichts zu essen hat?“

      Und so packte er auch noch einen Sack Saat­kartoffeln – „für nach dem Krieg“ - in die Grube. Dann gab er sich viel Mühe und setzte die Bodenplatten so ein, dass man nicht sehen konn­te, wo der Schatz unter dem Boden versteckt war.

      Und jedes Mal, wenn nun nach dem Krieg die Sprache auf den vergra­benen Schatz kommt, rauft sich Großmutter die grauen Haare und zittert mit ihrem Dreifach-Kinn. Sie stellt sich vor, wie die keimenden Kartoffeln die schweren Steinplatten anheben und den kostbaren Schatz verraten. Ihr ganzer Stolz, das schwere Tafelsilber aus der Aussteuer, ihr schöner Erbschmuck, ihre geliebten Fotos sind fremden Räubern, Plünderern und Tunichtguten in die Hände gefallen. Nicht auszudenken, wenn diese Barbaren dann womöglich das in dänischer Handwerks Kunst fein geschmiedete Silber eingeschmolzen hätten! Und darum schilt Großmutter den Großvater einen Dummkopf. Und der ver­sucht schnell vom heiklen Thema abzulenken, wenn wir Enkel unbe­dingt wieder die Geschichte vom Schatz hören wollen.

      Meine andere Großmutter, die ja auch Martha hieß, hatte ebenfalls eine schwere Schatztruhe gepackt, als Stettin mehr und mehr in Schutt und Asche gebombt wurde. Ihr Sohn, unser Onkel Kurt, hat ihre Truhe aufs Land nach Hinterpommern gebracht und dort vergraben, so wie es sich gehört. Leider hat auch sie nie wieder etwas von ihrem Schatz gesehen. Ich träume davon, den Schatz irgendwann in den Weiten Polens zu heben. Eine Schatzkarte hat sie leider nicht hinter­lassen.

      Ich hab mir schon überlegt, ob ich nicht wenigstens einmal nach Stettin fahre. Dort weiß ich, wo ein Schatz versteckt ist. Das Gebäude an der Hakenterrasse existiert noch. Zu gern würde ich dort mit einem Metalldetektor den Fußboden der großen Halle an der Hakenterrasse in Stettin absuchen.

      Mein Mann meint aber, dass ich das besser bleiben lassen soll. Er fürchtet Komplikationen für die deutsch-polnische Freundschaft, die ja ohnehin ein so zartes Pflänzchen ist.

      Landleben

      Inmitten Grüner Wiesen, umgeben von einem Park mit hohen Bäumen liegt das hübsche Gutshaus in Eichenwalde. Eichenwalde besteht aus einem schlichten Herrenhaus und ein paar kleinen Bauernkaten drum herum. Weite Wiesen, hohe Pappelalleen, Knicks und kleine Teiche