Hans Nordländer

Reise nach Rûngnár


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zu halten. Trotzdem gelang ihm ein unauffälliger Seitenblick auf sie. Er konnte keine Anzeichen für eine Furcht erkennen. Falls sie tatsächlich etwas Derartiges spürten, gelang es ihnen sehr gut, es zu verbergen.

      Schon von weitem erkannte Nils einen kleinen Fluss, der sich durch eine baumlose Niederung schlängelte. Und dort stand auch die Hütte, von der Elvis gesprochen hatte. Da sollte sich Charlotte versteckt halten.

      Narvidur hatte Nils in der Zwischenzeit ein wenig über diese merkwürdigen Tore erzählt, die es möglich machten, zwischen der Erde und Rûngnár hin- und herzuwechseln. Es handelte sich eigentlich um Orte, an denen die Schwingungen beider Welten so weit angeglichen werden konnten, dass die Grenze zwischen ihnen durchlässig wurde. Gleichzeitig veränderte sich aber auch die Dichte derjenigen, die die Tore durchschritten. In beiden Welten waren sie durch ein schwaches Flimmern erkennbar, das aber nur so lange bestehen blieb wie das Tor, und das waren nur wenige Augenblicke. Auf die zufällige Öffnung eines solchen Tores an einem bestimmten Ort zu warten, war unmöglich. Man hätte ewig warten können. Aber manche Menschen und Rûngnári besaßen die Fähigkeit, solche Tore entstehen zu lassen und das unabhängig von einem bestimmten Ort. Nur so waren planvolle Übergänge möglich. Zu ihnen gehörten Narvidur, die zu diesem Zeitpunkt noch unbekannte Cereia und Charlotte, die kurz darauf auf den Plan trat. Nils besaß die Veranlagung dazu, was er aber nicht wusste. Zu dieser Zeit war er aber noch nicht im Stande, sie anzuwenden.

      Nils war erstaunt gewesen, mit welcher Geduld Narvidur versucht hatte, ihm die Zusammenhänge zu erklären. Worüber er weniger erstaunt war, das war die Tatsache, dass er es nicht verstand. Immerhin begriff Nils, dass es sich um eine Magie handelte, die er einige Tage vorher noch als völligen Unsinn abgetan hätte, wie jede andere Magie auch. Umso mehr bewunderte er sich selbst, dass er sie in der Welt der Rûngori innerhalb so kurzer Zeit für eine beinahe alltägliche Erscheinung hielt.

      Nils´ Übertritt war beabsichtigt gewesen. Von wem, das würde er schließlich beim Tchelasan erfahren. An dem Ort, an dem er herausgekommen war, sollte er von Freunden Narvidurs abgeholt werden. Doch entweder war er zu früh aufgetaucht oder die Rûngori hatten sich verspätet, das mussten sie noch herausfinden. Jedenfalls hatten sie sich verfehlt. So kam es, dass Nils von den Wächtern gefangengenommen und abgeführt wurde, bevor die Gesandten ihn befreien konnten. Sie erfuhren noch nicht einmal, was mit Nils geschehen war. Daher war es ein glücklicher und ungemein unerwarteter Zufall, dass sich Nils und Narvidur schließlich in der Kerkerzelle begegneten.

      So, wie Elvis vom Auftauchen Charlottes gesprochen hatte, schien das nicht zufällig geschehen zu sein. Nils fragte sich, ob sie beide aus dem gleichen Grund in der Welt der Rûngnári angekommen waren, den er hoffentlich bald erfahren würde.

      Narvidur klopfte vernehmlich an die Tür der Hütte.

      „Charlotte! Kela om bo lem!“, sagte er laut.

      Es kam keine Antwort.

      „Charlotte?! Kela om bo lem! Tophal, Torfrida, Nils und Narvidur sind hier. Wir kommen dich abholen. Mach die Tür auf.“

      Er rüttelte an dem Griff. Mit einem Quietschen öffnete sich die Tür. Der Schuppen war klein und es gab keine Möglichkeit, sich zu verstecken, aber auch keine Spur von Charlotte.

      „Meinst du, sie hat Angst vor uns und ist abgehauen?“, fragte Nils.

      „Unsinn“, meinte Narvidur. „Sie kennt uns. Charlotte ist auch nicht das erste Mal in dieser Welt.“

      „Auch?“, fragte Nils, als ob ihm plötzlich etwas schwante. Irgendetwas, glaubte er, braute sich über ihm zusammen.

      „Ja.“

      Plötzlich schwebte ein Schatten neben Nils vom Himmel und erschrocken griff er an sein Schwert. Doch als er erkannte, wen er vor sich hatte, ließ er seinen Arm wieder sinken.

      „Willst du eine schwache Frau wirklich mit einem Schwert angreifen?“, fragte sie mit einem leutseligen Gesichtsausdruck und blickte Nils unverwandt an.

      „Ich, äh, nein“, erwiderte Nils. „Entschuldigung.“

      Nils war weniger verwirrt über ihre Frage, als vielmehr durch die Art ihres Auftauchens, denn ein Sprung aus dieser Höhe nahm üblicherweise weniger Zeit in Anspruch. Vielleicht lag es auch daran, dass er zum ersten Mal einer angeblichen Hexe gegenüberstand.

      Er schätzte Charlotte auf sein Alter, und dass sie eine Schweizerin war, war deutlich an ihrem Dialekt zu erkennen. Sie besaß feuerrote, schulterlange Haare und grüne Augen. Auch wenn sie nicht rûngorisch leuchtenden, so war Nils doch überzeugt davon, dass sie es in Augenblicken des Zornes oder der Leidenschaft tun würden, oder wenn es galt, jemanden von ihren Worten zu überzeugen, der sich damit ein wenig schwertat, vorausgesetzt, sie war tatsächlich eine Hexe. Insoweit kam sie dem Klischee einer Hexe nahe. Aber ihr durchaus ansehnliches Gesicht wurde weder von einer gewaltigen Nase noch von einer fetten Warze an derselben oder an einer anderen sichtbaren Stelle verunstaltet. Charlottes Lächeln überzeugte ihn davon, dass ihre makellosen Zähne keine Lücken aufwiesen. Allerdings passten ihr langes, dunkles, etwas schlotteriges Kleid und ihre abgewetzte Umhängetasche aus Leder zu ihrer angeblichen Profession.

      Wenn sie tatsächlich eine Hexe ist, dann ist sie noch nicht lange im Geschäft, dachte er schmunzelnd, nachdem er sich von seinem Schrecken wieder erholt hatte. Glücklicherweise deutete Charlotte sein Lächeln als Verlegenheit.

      „Warum hast du auf meinen Zuruf nicht geantwortet?“, fragte Narvidur. „Und warum warst du auf dem Dach und nicht in der Hütte?“

      „Weil es in der Hütte nicht sicher war. Dem ersten Trupp Wächter sind Maart und ich entkommen, doch kaum hatte er mich hierher gebracht, kam der nächste und größere vorbei. Sie fanden den Stall hier so interessant, dass sie ihn inspizierten. Natürlich hätte ich mich ihrer erwehren können, aber ihr habt es mir ja verboten. Also habe ich mich auf dem Dach versteckt. Und dort bin ich ein wenig eingenickt. Das ist alles.“

      „Und den Wächtern ist wirklich nichts passiert?“, vergewisserte sich Tophal.

      Nils fand es seltsam, dass Tophal so um die Wächter besorgt schien.

      „Ich schwöre es. Ich habe sie weder in Mäuse noch in Spatzen oder Mistkäfer verwandelt, sondern laufen lassen, wie versprochen.“

      Nils war sicher, dass sie jetzt mit ihnen ihre Späße trieb – oder etwa nicht?

      „Das war auch besser so“, meinte Narvidur. „Du weißt, was alles passieren kann.“

      „Nur bei mir macht ihr euch deswegen Sorgen“, grummelte Charlotte und beschloss, für eine Weile zu schmollen.

      „Also gut“, meinte Tophal. „Ich will dir glauben. Dann lasst uns von hier verschwinden, bevor die Wächter zurückkommen oder ein anderer Trupp auftaucht.“

      Von der Hütte entfernte sich genauso wenig ein Pfad, wie einer zu ihr hinführte. Die Schleuse war schon seit langer Zeit nicht mehr in Betrieb und es gab keinen Verkehr mehr, seit die Bewohner das Reservat verlassen hatten. Die Feldwege waren inzwischen wieder von Gras überwuchert und nicht mehr zu erkennen. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich ihren Weg selbst zu bahnen.

      Eine Weile gingen sie über die ebene Steppe und nur selten gab es Hindernisse in der Gestalt von Bächen oder Gräben. Manche von ihnen schienen einst von Rûngorihand angelegt worden zu sein. Sie waren zwar verwildert, aber von unnatürlich geradem Verlauf. Und immer wieder stießen sie auf die Überreste verfallender Brücken.

      Es war ihnen klar, dass sie sich wie auf einem Präsentierteller bewegten, aber es gab für einige Zeit nirgends die Möglichkeit, im Schutz von Deckungen voranzukommen. Immerhin galt das Gleiche für die Rûngori-Wächter. Wenn sie in ihrer Aufmerksamkeit nicht nachließen, konnten Krieger sich ihnen kaum unbemerkt nähern.

      Tophal und Narvidur gingen schweigsam nebeneinander her. Dahinter folgte Torfrida und den Schluss bildeten Nils und Charlotte. Die Rûngori gingen schnell und Nils wusste, dass sie möglichst rasch die freie Fläche überwinden wollten. Immer wieder ließen sie ihre Blicke über die Ebene gleiten und richteten sie von