Albert Morava

Sinnsuche zu Zeiten von Cholera


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war schon mit einem Bein aus der Wohnungstür heraus.

      "Umso besser", sagte er.

      Jan öffnete die Tür und ging auf den Burschen zu, um sich vorzustellen und mit ihm zu reden, das Gespräch war denkbar kurz, denn Arno hatte es eilig. Möglicherweise fürchtete er, das Geld mit dem neuen Betreuer teilen zu müssen.

      "In einer Woche bin ich wieder da", sagte er mit ausdrucklosem Gesicht. "Dann reden wir!"

      Jan sah Arno nie wieder.

      Die Tatsache, dass sie jetzt verheiratet waren, bedeutete nicht, dass er in Ellas Zimmer im Seminar der theologischen Fakultät über Nacht bleiben durfte, obwohl er von ihrem Mentor als Besucher geduldet wurde. Aber intimes Zusammensein, das heute mehr oder weniger glücklich als Sex bezeichnet und bekanntlich vom sechsten Gebot der Bibel abgeleitet wird, war nicht erwünscht. Die Mentorfrau sah zu, dass ein Bruch des sechsten Gebotes nicht zustande käme.Jans Zimmer in der neuen Studentenstadt war für eine sturmfreie Übernachtung zu Zweit auch denkbar schlecht geeignet; zumindest einer der beiden Zimmergenossen war immer dabei und eine Nacht im Prager Hotel kostete ein Vermögen, das sie beide nicht hatten.

      Geldmäßig pfiff Jan ohnehin auf dem letzten Loch; ab dem nächsten Monat, so schien es, konnte er mit keiner Unterstützung von seinen Eltern mehr rechnen und auch Ellas Stipendium wurde vorläufig wegen Bearbeitung der Namensänderung gestoppt.

      Die Adventszeit kam wieder, ohne dass sie nach der verflossenen Hochzeitsnacht, die eigentlich keine war, einen physischen Kontakt als Mann und Frau - wie im Sommer in der kleinen Ferienhütte am Stausee - gehabt hätten. Das prekäre Zimmer, das Jan als Betreuer zugewiesen wurde, war jetzt der einzige für ein intimes Zusammensein verfügbare Zufluchtsort. Kurz vor dem zweiten Adventssonntag schlug er Ella vor, dort eine Nacht zu verbringen.

      "Irgendwann werden wir ja die ganze Wohnung beziehen ", meinte er, "warum sollten wir nicht jetzt schon ausprobieren, wie man sich dort fühlt?"

      Ella lachte und hielt den Vorschlag zunächst für einen schlechten Witz.

      "Ich habe doch noch mein Bett bei der Oma."

      "Es geht nicht nur um das Bett, sondern um unser Zusammensein als Mann und Frau. Deswegen haben wir geheiratet!"

      Sie runzelte nachdenklich die Stirn und schwieg. Da die Hochzeitsnacht nicht das war, was sie hätte sein sollen, fürchtete sie, in der vernachlässigten Wohnung, die sie mit einer pflegebedürftigen Greisin teilen würden, eine weitere Enttäuschung erfahren zu müssen. Nach einer Weile glättete sich die Stirn wieder und sie sagte:

      "Ekelchen, du hast wohl recht. Wir sind Mann und Frau. Allerdings gehe ich am Wochenende gehe ich immer mit meinem Hund spazieren."

      Jan, der Verständnis für die Probleme anderer hatte, und grundsätzlich auch kompromissbereit war, schlug vor: "Wir nehmen den Hund mit uns! Und wenn ihm das Zimmer nicht gefällt, bringen wir ihn wieder zur Oma."

      Die Oma musste für Vieles geradestehen: sie gab Ella frische Bezüge und zwei Bettdecken für das Ehebett mit und wünschte dem Paar viel Glück.

      Am Samstagnachmittag betraten sie die Wohnung und tatsächlich: der Hund wollte gar nicht hinein und begann kläglich zu jaulen. Die alte Frau schlief, ohne das Gejaul wahrzunehmen oder sie tat so.

      "Ist jemand da", fragte sie schließlich.

      "Das bin ich, Ihr neuer Betreuer", sagte Jan. "Und ich habe jetzt auch eine Krankenschwester dabei."

      Die alte Frau sagte nichts und drehte sich zur Seite: ein Zeichen, dass sie mit keinem reden wollte. Ihr Nachttopf war noch nicht voll und Jan schob ihn mit dem Fuß unter das Bett.

      Der Hund blieb in der Tür stehen und Ella brachte ihn kommentarlos zur Oma zurück, es waren nur einige Hundert Meter. Sie ließ das Bettzeug auf dem Bett liegen und versprach, gleich wieder zurückzukommen.

      "Du kannst derweil das Bett beziehen", meinte sie etwas patzig.

      Das tat er so gut er konnte und es fiel ihm auf, dass die schweren Roßhaarmatratzen stark verstaubt waren, mit jeder Bewegung bildete sich über dem Bett immer aufs neue eine kleine Staubwolke. Er machte das Fenster auf und als Ella zurückkam, war das Bett frisch bezogen.

      Als es abends dunkel wurde, stellten sie fest, dass der antike Lüster, der weit oben an der Zimmerdecke hing, nicht funktionierte. Ella musste nochmals zur Oma zurück, um dort eine Taschenlampe und einige Kerzen zu holen; danach liebten sie sich schnell und kurz im Kerzenlicht. Im Zimmer wurde es staubig und das Bett gab Horrorgeräusche von sich, doch sie merkten das kaum.

       Nach dem Liebesspiel schliefen sie beide nackt ein, nassgeschwitzt, obwohl das Zimmer kühl und unbeheizt war. Später wachten sie auf und spürten die Kälte.

      Ella zog ein langes weißes Nachthemd an und Jan einen Schlafanzug, der aus einer Jacke mit vielen Knöpfen und einer dicken Flanellhose mit offenem Schlitz zwischen den Beinen bestand. Sie legten sich nebeneinander und deckten sich mit zwei Bettdecken zu, umarmten sich und nach einer Weile liebten sie sich angezogen wieder. Irgendwann flaute die körperliche Lust ab und die Kerzen gingen aus. Erschöpft und hungrig schliefen sie ein.

      Mitten in der Nacht wurden sie plötzlich beide wach, Jans Handgelenk juckte und Ella spürte starken Juckreiz an den Beinen.

      "Wir schlafen wohl auf einem Ameisenhaufen!"

      "Im Winter schlafen die Ameisen", sagte Jan ironisch. "Aber es könnte ein Floh sein."

      In den überfüllten Prager Straßenbahnen war es durchaus möglich, sich von einem der vielen ungepflegten Mitreisenden einen Floh zu holen, zumal auch Hunde frei mitreisen durften.

      "Bist du sicher, dass Lump keine Flöhe hat?" Lump war der geliebte schwarze Schäferhund, Ellas Beschützer.

      "Sei nicht so ekelhaft!" Die Stimme klang leicht hysterisch. "Mit Sicherheit nicht. Die Oma wäscht ihn jede Woche in einem großen Holztrog!"

      "Wenn es ein Floh ist, können wir ihn jetzt ohne Licht nicht finden. Außerdem springen die Flöhe. Oft verstecken sie sich in der Kleidung. Man muss im Badezimmer die Wanne vollaufen lassen und sich dort ausziehen. Der Floh springt dann ins Wasser und ertrinkt!"

      "Wieso weißt du das? Hast du damit schon Erfahrung?"

      "Nein", sagte er. "Jemand hat mir das erzählt."

      Sie versuchten weiter zu schlafen. Gegen Morgen wachten sie auf und schauten sich im anbrechenden Morgengrauen ihre Körper an. Ella hatte viele rote Stiche an den Beinen und an Jans Armen und Bauch zeichneten sich ebenfalls große, rote Bissspuren ab.

      "Verdammt", sagte Jan, "das ist nicht nur ein Floh. Es muss eine ganzes Heer von Flöhen sein."

      Im frisch bezogenen Bett war auf den ersten Blick nichts zu sehen, nur leichte Blutspuren von im Schlaf zerkratzter Haut.

      "Vielleicht ist etwas unter den Matratzen", meinte Ella. Jan ergriff die Matratze und hob sie an; darunter tummelten sich viele rötlicheTierchen, die wespenähnlich aussahen.

      "Das sind keine Flöhe! Es müssen Bettwanzen sein!"

      Weder er noch Ella hatten bis zu diesem Augenblick je eine Bettwanze gesehen. Jetzt wussten sie, was eine Bettwanze war. Der Juckreiz von bereits erfolgten Bissen blieb und zwang sie, sich ständig zu kratzen.

      "Ekelhaft!" sagte Ella auf deutsch. "Und was machen wir jetzt?

      "Nichts wie raus hier!"

      Sie zogen sich an und verließen die Wohnung, um im gegeüberliegenden Bahnhofsbistro zu frühstücken. Ursprünglich wollten sie den ganzen Sonntag im Zimmer bleiben und die Zeit miteinander genießen; die Lust darauf war ihnen jetzt vergangen.

      Später rief Ella ihre Mutter an und erzählte ihr, was in der Nacht vorgefallen war und dass sie beide von Wanzen zerfressen seien.

      Um sie zu trösten, lud die Mutter sie zum Mittagessen ein. Wohl oder übel hatte sie nun die Tatsache akzeptiert, dass Ella verheiratet war, obwohl dies gegen ihren Willen geschah.