Rainar Nitzsche

Der Leuchtende Pfad des Magiers


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Einen Menschen sehe ich darin aufstehen und alle Krankheiten hinter sich lassen. Dort unten auf der Erde bleibt seine graue Hülle zurück. Denn er erhebt sich, steigt gleich einem schlüpfenden Schmetterling auf, eben noch fressende, wachsende Raupe, ein Kind, dann träumende Puppe, jetzt ...

      Bin ich wie er?, frage ich mich und atme Nacht und Sterne.

      Etwas wächst in mir.

      Ich knie mit noch immer ausgebreiteten Armen auf der mit grauen Steinen neu bepflasterten Straße, fühle mich frisch und stark, wie neugeboren, doch ohne den Schock der Geburt und die Hilflosigkeit des Säuglings, bin ein neugeborener Erwachsener.

      Jetzt könnte alles geschehen, könnte mich aufrichten, mit ausgebreiteten Armen erheben und in die Nacht hinaufschweben, denke ich und spüre nicht, wie es bereits geschieht, wie ich aufrecht stehend emporsteige, sehe nicht meine alte Menschenhülle dort unten auf den Steinen verdampfen, nehme nicht wahr, wie Kleidung, Krankheit, Alter und Alltagssorgen im Gestern zurückbleiben.

       Gate, gate, paragate ...

       Gegangen, gegangen, darüber hinaus gegangen ...

       Aber noch lange nicht erleuchtet.

      Aufrecht geht der Mensch. Aufrecht steige ich auf, schreite schlafwandelnd über den Dächern dahin.

      Hoch oben erwache ich und schaue hinab. Unter mir leuchtet die Stadt. Dort irgendwo unten ist eine Kneipe, eine von vielen. Dort sitzen meine Freun... Menschen, deren Abbilder nun verschwimmen. Sie wissen nicht, wo ich bin. Sie wissen so wenig von mir, werden niemals mehr über mich erfahren.

      Und ich? Was ist mit mir?

      Staunend rufe ich aus: „Mein Gott, wer bin ich? Ich habe meinen Namen verloren!“

      Dann vergesse ich auch dies und gehe weiter meiner Zukunft entgegen. Sie leuchtet vor mir auf, funkelt bisweilen wie Kristall, spiegelt sich in einem Band aus Licht in meinem Leuchtenden Pfad.

      Alles wird sein wie ein Traum.

      Aber es ist kein Traum, fällt mir ein.

       Es war kein Traum.

       Und wäre es so gewesen, sind nicht auch Träume Wirklichkeit?

       Was haben all unsere Wahrnehmungen mit der äußeren Realität gemein?

      Was sind Erinnerungen?

       Sind sie nicht lediglich nur verschwommene Abbilder von dem, was einmal war?

       Du, liebe(r) LeserIn, der du dies alles gerade liest, möchtest mehr wissen. „Erzähl, wie es kam!“, forderst du mich auf. „Was war vor dem Fliegen und dem Stammtisch? Erzähl ein wenig aus deinem Leben! Damit ich erfahre, wie es geschehen konnte, damit auch ich so werden kann wie du. Erzähl! Beginne vielleicht mit dem Ort, der Umgebung. Verrate mir, wo das alles geschah.“

       In einem der zahlreichen Universen.

      „Sehr lustig. Geht’s nicht ein wenig genauer?“

       Nun gut, 30 000 Lichtjahre vom Zentrum entfernt am Rande einer Galaxie, auf dem dritten Planeten eines gelben Sterns, von den Eingeborenen Erde genannt. Dort gab es im Westen eines großen Kontinents eine Stadt namens K-town, zu Deutsch: Kaiserslautern. In einem kleinen Zimmer unter dem Dach à la Spitzwegs Der arme Poet , aber wasserdicht, mit Gasofen, Gemeinschaftsküche mit Dusche und dem Klo eine halbe Treppe tiefer, o ja, dort, wo der indonesische Student abends immer Hühnchen mit Reis kochte oder - Reis mit Hühnchen, dort ...

       Halt! Vergiss die Sache mit dem Zimmer in der WG! Das war ja vorher. Da wohnte ich ja schon lange nicht mehr, als es geschah. Also die andere Wohnung um die Ecke – ebenfalls eine Altbauwohnung, doch mit zwei Zimmern und einer Küche mit Elektrodusche für mich ganz allein - dort war es, wo diese Reise begann, dort. Jeden Tag träumte ich von dem Pfad. So war ich nicht so geschockt, wie man glauben könnte, eher verwundert, als ich ihn eines Nachts tatsächlich vor mir sah. Ich rieb mir die Augen, zwickte mich ... das Band aus Licht war noch immer da. Also zögerte ich nicht, stand auf und folgte dem leuchtenden Band vor meinen Füßen. Ich öffnete die Zimmertür, durchquerte die Küche, ließ die Wohnungstür hinter mir, ging die Treppe hinab und hinaus auf die Straße, die menschenleer war. Dann zum Stadtzentrum hin begegnete ich endlich Menschen. Doch niemand sah auf, kein Staunen, kein „Ooh“ wie beim Kerwe-Feuerwerk. Keiner außer mir schien meinen Leuchtenden Pfad wahrzunehmen, der sich nun pulsierend in allen Farben vor mir fand und wand: gelb und rot, grün und blau, dann violett und strahlend weiß. So gelangte ich in die Fußgängerzone und in die Kneipe. Das war der Beginn, mein Weg!

       Halt! Mein Weg begann natürlich ganz woanders, mit meiner Geburt in einer anderen, viel größeren Stadt. Wie fern ist doch die Kindergartenzeit.

       Oder begann alles viel früher, in einem anderen Leben, an anderem Ort, als ein anderes Wesen? Begann alles mit dem ersten Leben auf dieser Erde?

       Denn alle meine Väter und Mütter überlebten in mir.

       Und was war vor der Erde und vor diesem Universum?

       Fragen über Fragen und keine einzige Antwort.

       Kehren wir also wieder zurück in klarere Gefilde, dorthin, wohin mein Erinnern reicht. Ich lag also auf meinem Bett, von Lautsprecherboxen umgeben, und lauschte elektronischen Klängen: Kitaro, Schulze, Vangelis und - Nitzsche. Das war die Musik, die mich umgab und schon manches Mal hinweggefegt hatte. Ich schloss die Augen und sah den Leuchtenden Pfad vor mir. Ich öffnete die Augen und sah ihn noch immer und stand auf, zog mir die schwarzen Wildlederschuhe an und die schwarze Jeansjacke, passend zu den schwarzen Jeans, über, folgte dem Leuchten bis in die Kneipe, wo ich ihn im Zigarettenqualm und Alkoholdunst verlor. Ich sah mich um und - erblickte sie.

      Nun sitze ich an einem runden Tisch, mir gegenüber die Stamm... Oh! Wieso sitze ich schon? Stand ich nicht gerade noch an der Tür?

      Auch hier innen sieht alles so anders aus als sonst.

      Oder liegt es an der Zeit?

      Die ist ja auch verkehrt! Schon spät ist es in der Nacht. Und doch, all die Stammtischfreunde sind da, und ich bin mitten unter ihnen. Da kommt auch schon mein Dornfelder, nicht bestellt und schon serviert von der schlanken jungen Frau. Also ist alles wie immer. Der Wirt weiß Bescheid. Ich nehme einen großen Schluck.

       Sonst tat sich weiter nichts. Oder doch oder ja oder nein?

       Halt! Eins bleibt noch zu erwähnen, eine Sache störte mich wie immer, wenn auch immer weniger - dieser für einen Nichtraucher wie mich nicht sonderlich attraktive und gesunde Zigarettenqualm, zumal er jetzt auch noch meine Vision ver...

      Aber da ist ja wieder mein Leuchtender Pfad, taucht auf aus dem Rauch - Dunst - Nebel. Mystischer Nebel, aus dem Bilder aufsteigen und Wesen ... Die Nebel des Drachenlandes, an dessen Grenzen schwarze Raben ewig wachen ...

       Ja, so begann alles. Das sind meine eigenen Erinnerungen an den Beginn eines anderen Lebens.

       Die anderen aber - das weiß ich nun - erinnern sich - wen wundert es - ein wenig anders.

      „Die anderen?“, fragst du.

       Die Freunde vom Stammtisch natürlich! Hören wir einfach einmal, was uns die Dichterin zu sagen hat:

      Doch, ich erinnere mich. War da nicht ein Wüten dort draußen? Noch brausten die Stürme frei. Die letzten Bäume schrien und ihre Äste brachen. Wir saßen wie jeden Mittwoch bei Kerzenlicht im warmen Zimmer einer kleinen Kneipe gemütlich beisammen, unterhielten uns, tranken und aßen. Also war drinnen alles wie immer.

      Nein! Denn er stand plötzlich auf.

      „Wohin gehst du, Dok?,