Friedrich Schiller

Friedrich Schiller – Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie + Die Braut von Messina


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ein Aufenthalt erscheinen, der nur den Gang der Handlung unterbricht, der die Täuschung stört, der den Zuschauer erkältet. Um dem Chor sein Recht anzutun, muss man sich also von der wirklichen Bühne auf eine mögliche versetzen, aber das muss man überall, wo man zu etwas Höherm gelangen will. Was die Kunst noch nicht hat, das soll sie erwerben; der zufällige Mangel an Hilfsmitteln darf die schaffende Einbildungskraft des Dichters nicht beschränken. Das Würdigste setzt er sich zum Ziel, einem Ideale strebt er nach, die ausübende Kunst mag sich nach den Umständen bequemen.

      Es ist nicht wahr, was man gewöhnlich behaupten hört, dass das Publikum die Kunst herabzieht; der Künstler zieht das Publikum herab, und zu allen Zeiten, wo die Kunst verfiel, ist sie durch die Künstler gefallen. Das Publikum braucht nichts als Empfänglichkeit, und diese besitzt es. Es tritt vor den Vorhang mit einem unbestimmten Verlangen, mit einem vielseitigen Vermögen. Zu dem Höchsten bringt es eine Fähigkeit mit, es erfreut sich an dem Verständigen und Rechten, und wenn es damit angefangen hat, sich mit dem Schlechten zu begnügen, so wird es zuverlässig damit aufhören, das Vortreffliche zu fordern, wenn man es ihm erst gegeben hat.

      Der Dichter, hört man einwenden, hat gut nach einem Ideal arbeiten, der Kunstrichter hat gut nach Ideen urteilen, die bedingte, beschränkte, ausübende Kunst ruht auf dem Bedürfnis. Der Unternehmer will bestehen, der Schauspieler will sich zeigen, der Zuschauer will unterhalten und in Bewegung gesetzt sein. Das Vergnügen sucht er und ist unzufrieden, wenn man ihm da eine Anstrengung zumutet, wo er ein Spiel und eine Erholung erwartet.

      Aber, indem man das Theater ernsthafter behandelt, will man das Vergnügen des Zuschauers nicht aufheben, sondern veredeln. Es soll ein Spiel bleiben, aber ein poetisches. Alle Kunst ist der Freude gewidmet, und es gibt keine höhere und keine ernsthaftere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken. Die rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten Genuss verschafft. Der höchste Genuss aber ist die Freiheit des Gemütes in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte.

      Jeder Mensch zwar erwartet von den Künsten der Einbildungskraft eine gewisse Befreiung von den Schranken des Wirklichen, er will sich an dem Möglichen ergötzen und seiner Phantasie Raum geben. Der am wenigsten erwartet, will doch sein Geschäft, sein gemeines Leben, sein Individuum vergessen, er will sich in außerordentlichen Lagen fühlen, sich an den seltsamen Kombinationen des Zufalls weiden, er will, wenn er von ernsthafterer Natur ist, die moralische Weltregierung, die er im wirklichen Leben vermisst, auf der Schaubühne finden. Aber er weiß selbst recht gut, dass er nur ein leeres Spiel treibt, dass er im eigentlichen Sinn sich nur an Träumen weidet, und wenn er von dem Schauplatz wieder in die wirkliche Welt zurückkehrt, so umgibt ihn diese wieder mit ihrer ganzen drückenden Enge, er ist ihr Raub, wie vorher, denn sie selbst ist geblieben, was sie war, und an ihm ist nichts verändert worden. Dadurch ist also nichts gewonnen, als ein gefälliger Wahn des Augenblicks, der beim Erwachen verschwindet.

      Und eben darum, weil es hier nur auf eine vorübergehende Täuschung abgesehen ist, so ist auch nur ein Schein der Wahrheit oder die beliebte Wahrscheinlichkeit nötig, die man so gern an die Stelle der Wahrheit setzt.

      Die wahre Kunst aber hat es nicht bloß auf ein vorübergehendes Spiel abgesehen, es ist ihr Ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der Tat frei zu machen, und dieses dadurch, dass sie eine Kraft in ihm erweckt, übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als ein roher Stoff auf uns lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu rücken, in ein freies Werk unsers Geistes zu verwandeln und das Materielle durch Ideen zu beherrschen.

      Und eben darum weil die wahre Kunst etwas Reelles und Objektives will, so kann sie sich nicht bloß mit dem Schein der Wahrheit begnügen; auf der Wahrheit selbst, auf dem festen und tiefen Grunde der Natur errichtet sie ihr ideales Gebäude.

      Wie aber nun die Kunst zugleich ganz ideell und doch im tiefsten Sinne reell sein – wie sie das Wirkliche ganz verlassen und doch aufs genaueste mit der Natur übereinstimmen soll und kann, das ist‘s, was wenige fassen, was die Ansicht poetischer und plastischer Werke so schielend macht, weil beide Forderungen einander im gemeinen Urteil geradezu aufzuheben scheinen.

      Auch begegnet es gewöhnlich, dass man das eine mit Aufopferung des andern zu erreichen sucht und eben deswegen beides verfehlt. Wem die Natur zwar einen treuen Sinn und eine Innigkeit des Gefühls verliehen, aber die schaffende Einbildungskraft versagte, der wird ein treuer Maler des Wirklichen sein, er wird die zufällige Erscheinungen, aber nie den Geist der Natur ergreifen. Nur den Stoff der Welt wird er uns wiederbringen, aber es wird eben darum nicht unser Werk, nicht das freie Produkt unsers bildenden Geistes sein und kann also auch die wohltätige Wirkung der Kunst, welche in der Freiheit besteht, nicht haben. Ernst zwar, doch unerfreulich ist die Stimmung, mit der uns ein solcher Künstler und Dichter entlässt, und wir sehen uns durch die Kunst selbst, die uns befreien sollte, in die gemeine enge Wirklichkeit peinlich zurückversetzt. Wem hingegen zwar eine rege Phantasie, aber ohne Gemüt und Charakter, zuteil geworden, der wird sich um keine Wahrheit bekümmern; sondern mit dem Weltstoff nur spielen, nur durch phantastische und bizarre Kombinationen zu überraschen suchen, und wie sein ganzes Tun nur Schaum und Schein ist, so wird er zwar für den Augenblick unterhalten, aber im Gemüt nichts erbauen und begründen. Sein Spiel ist, so wie der Ernst des andern, kein poetisches. Phantastische Gebilde willkürlich aneinanderreihen, heißt nicht ins Ideale gehen, und das Wirkliche nachahmend wieder bringen, heißt nicht die Natur darstellen. Beide Forderungen stehen so wenig im Widerspruch miteinander, dass sie vielmehr – eine und dieselbe sind; dass die Kunst nur dadurch wahr ist, dass sie das Wirkliche ganz verlässt und rein ideell wird. Die Natur selbst ist nur eine Idee des Geistes, die nie in die Sinne fällt. Unter der Decke der Erscheinungen liegt sie, aber sie selbst kommt niemals zur Erscheinung. Bloß der Kunst des Ideals ist es verliehen, oder vielmehr, es ist ihr aufgegeben, diesen Geist des Alls zu ergreifen und in einer körperlichen Form zu binden. Auch sie selbst kann ihn zwar nie vor die Sinne, aber doch durch ihre schaffende Gewalt vor die Einbildungskraft bringen und dadurch wahrer sein als alle Wirklichkeit und realer als alle Erfahrung. Es ergibt sich daraus von selbst, dass der Künstler kein einziges Element aus der Wirklichkeit brauchen kann, wie er es findet, dass sein Werk in allen seinen Teilen ideell sein muss, wenn es als ein Ganzes Realität haben und mit der Natur übereinstimmen soll.

      Was von Poesie und Kunst im Ganzen wahr ist, gilt auch von allen Gattungen derselben, und es lässt sich ohne Mühe von dem jetzt Gesagten auf die Tragödie die Anwendung machen. Auch hier hatte man lange und hat noch jetzt mit dem gemeinen Begriff des Natürlichen zu kämpfen, welcher alle Poesie und Kunst geradezu aufhebt und vernichtet. Der bildenden Kunst gibt man zwar notdürftig, doch mehr aus konventionellen als aus innern Gründen, eine gewisse Idealität zu, aber von der Poesie und von der dramatischen insbesondere verlangt man Illusion, die, wenn sie auch wirklich zu leisten wäre, immer nur ein armseliger Gauklerbetrug sein würde. Alles Äußere bei einer dramatischen Vorstellung steht diesem Begriff entgegen – alles ist nur ein Symbol des Wirklichen. Der Tag selbst auf dem Theater ist nur ein künstlicher, die Architektur ist nur eine symbolische, die metrische Sprache selbst ist ideal, aber die Handlung soll nun einmal real sein und der Teil das Ganze zerstören. So haben die Franzosen, die den Geist der Alten zuerst ganz missverstanden, eine Einheit des Orts und der Zeit nach dem gemeinsten empirischen Sinn auf der Schaubühne eingeführt, als ob hier ein anderer Ort wäre als der bloß ideale Raum, und eine andere Zeit als bloß die stetige Folge der Handlung.

      Durch Einführung einer metrischen Sprache ist man indes der poetischen Tragödie schon um einen großen Schritt näher gekommen. Es sind einige lyrische Versuche auf der Schaubühne glücklich durchgegangen, und die Poesie hat sich durch ihre eigene lebendige Kraft, im Einzelnen, manchen Sieg über das herrschende Vorurteil errungen. Aber mit den einzelnen ist wenig gewonnen, wenn nicht der Irrtum im Ganzen fällt, und es ist nicht genug, dass man das nur als eine poetische Freiheit duldet, was doch das Wesen aller Poesie ist. Die Einführung des Chors wäre der letzte, der entscheidende Schritt – und wenn derselbe auch nur dazu diente, dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären, so sollte er uns eine lebendige Mauer sein, die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen und sich ihren idealen Boden ihre poetische Freiheit zu bewahren.

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