Mara Janisch

Sternengeflüster


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kommt keine Antwort. Sie beginnen die zweite Strophe mit demselben Text zu singen. Ich höre Frauenstimmen in verschiedenen Stimmlagen. Das Ganze klingt wie in Samt gehüllt.

      Hingegeben an den Gesang lausche ich. Lange habe ich das schon nicht gemacht: nur Hören, was an mein Ohr dringt. Mit uneingeschränkter Hingabe, ohne festzustellen, ist das noch eine Quart oder Quint. Unschuldiges Hören, Horchen. Der Klang ist einheitlich, klar und rein. Er führt in eine Welt, die mir vertraut und doch nicht bekannt ist. Seligkeit könnte ich es nennen.

      Seeligkeit, ein seelenvoller, gemütsvoller Gesang, eine Nahrung besonderer Art. Wohin führen und tragen mich diese Töne – sind es noch menschliche Stimmen? Ich kann den Eindruck nicht benennen. Jetzt haben sie aufgehört zu singen, der Klang schwingt nach und zaubert eine besondere Stille hervor. Ich höre und ruhe in mir, Frieden erfüllt mich.

      Nach einiger Zeit frage ich:

      „Wodurch ist es möglich, so schön zu singen, was war das, wie geht das?“ Ich warte.

      Unvermittelt höre ich

      „Wir müssen keine Leistung erbringen, wir werden nicht bezahlt für unser Singen. Nicht aus Ehrgeiz singen wir, wir wollen auch nicht berühmt werden, noch wollen wir gefallen. Wir singen aus reiner Freude und Absichtslosigkeit – aus Hingabe, aus Liebe singen wir. Wir dürfen auch falsch singen und deshalb singen wir nicht falsch.“

      Plötzlich erinnere ich mich an „Fehler machen ist eine Schande“. In diesem Moment durchzuckt etwas den Raum wie ein Blitz. Es geht so schnell, dass ich gleich wieder im Dunkeln sitze. Was war das? Habe ich geträumt? Ich habe in diesen paar Sekunden Frauen im Kreis stehen gesehen, alle in weiß gekleidet, alle hatten sehr langes braunes Haar. Gesichter konnte ich keine erkennen. Am Boden leuchtete etwas Goldenes, wie eine große Schale, in der sie standen. In der Nähe des Halses leuchtete ein weißes Licht. Wieder und wieder versuche ich mir das Bild in Erinnerung zu rufen, damit ich es ja nicht vergesse. Dieses Erlebnis schüchtert mich ein. Einmal finde ich zerstörerische Stimmen hier vor „Fehler machen ist eine Schande“ und dann wieder genau das Gegenteil! Ich bin verwirrt.

      Schüchtern frage ich

       „Würdet ihr noch etwas singen?“

      Stille umfängt mich. Ich warte wieder, keine Antwort höre ich. Sind sie vielleicht schon weg?

      Ich bin doch hierher gekommen, um meiner Empörung über „Fehler machen ist eine Schande“ Ausdruck zu verleihen und diese Frauen geben mir die Antwort auf ihre Weise.

      „Wir dürfen auch falsch singen und deshalb singen wir nicht falsch, wir singen aus Liebe“, haben sie gesagt. „Wir singen aus Liebe!“

      Noch nie in meinem Leben habe ich so einen berührenden Gesang gehört. Ist das das Geheimnis des Singens – des vollendeten Klanges – das Geheimnis der menschlichen Stimme überhaupt, was ich heute erlebt habe?

      Hörreise

      Stille – wie wohltuend, wo kann ich in der Stadt noch Stille erfahren?

      In der Nacht – in der tiefen Nacht, wenn alles schweigt. In die Stille hineinhören – lauschen. Wie vermisse ich dich Stille, wie suche ich dich.

      Hier in der Nacht bist du, hier darfst du sein, sonst fliehen dich die Menschen. Du machst ja Angst. Angst vor dem scheinbaren Nichts. Wer dich einmal gehört hat, will nichts mehr anderes hören: wie du klingst, tönst, schwingst – Raum gibst.

      Darinnen kann ich mich spüren, darin kann ich sein. Du bedrängst mich nicht, sondern umgibst mich mit deiner schützenden Hülle und du gibst, Gedanken, Gefühle und Ahnungen. Was schenkst du mir heute, womit bedenkst du mich? Was, heute klagst du mich an, weil ich so lange nicht bei dir war? Ich habe dich vergessen? Nein, sicher nicht! Nur – der Lebenskampf war so groß; - statt dir zu lauschen, hörte ich wirkliche Stimmen und wirkliches Singen, nicht immer zu Ehren des Ohres. Ich war Sängerin!

      „In einer ohrenlosen Zeit wird man nicht Sängerin“, höre ich sagen.

      „Ich konnte aber nicht leben ohne Singen, ich habe mich danach gesehnt. Auch war ich eine von meiner Aufgabe erfüllte Pädagogin“, wende ich ein.

      „Vielleicht bist du auf der falschen Seite gestanden“, höre ich.

      „Was heißt denn das schon wieder?“

      „Denke darüber nach“, tönt es gebieterisch.

      „Auf der falschen Seite? Wieso, hat jemand ein Buch über mich geschrieben?“ Kein Kommentar.

      „Du hast uns verraten, uns – die Töne der Harmonie und des Wohlklanges; du hast geglaubt, Menschen von ihren Misstönen zu befreien.

      Welch Irrtum! Damit bist du ins andere Lager gewechselt – du hast den Missklang angenommen, wenngleich du ihn verwandeln wolltest und ihn auch verwandelt hast“, halten sie mir vor.

      „Ist das ein Fehler?“, frage ich.

      „Ja, wenn man dem nicht gewachsen ist“, halten sie mir entgegen.

      „Ich bin dem gewachsen gewesen, ich bin daran auch gewachsen.“

      „Du bist dem gewachsen gewesen? Du bist an der Aufgabe fast zusammengebrochen!“

      „Ja, die Hingabe hat mich wie eine Flamme verzehrt“, füge ich stolz hinzu.

      „Ist das wünschenswert?“, höre ich.

      „Ja, im Namen meiner Vision vom Singen habe ich diese Hingabe bis zur Erschöpfung zugelassen. Ich bereue nichts. Das Feuer dieser Begeisterung hat mein Wesen überhaupt erst sichtbar gemacht“, verkünde ich.

      „Also bist du doch auf der falschen Seite gestanden“, ertönt es kalt!

      „Das Disharmonische ist doch dazu da, dass es in Harmonie verwandelt wird!“

      „Wen interessiert das schon! Die bestehende Harmonie wollen wir bewahren. Wir brauchen keine Änderung“, fordern sie.

      „Ja, ich glaube, ihr habt Recht, ich stehe wirklich auf der anderen Seite; ich kann mich nicht mit dem zufriedengeben, was ist, sondern nur mit dem, was entstehen soll. Ich trage dazu bei, dass die Harmonie entsteht, indem ich der Disharmonie begegne und mich mit ihr auseinandersetze. Hohle Ästhetik interessiert mich nicht!“, entgegne ich.

      „Du kennst das Leben noch nicht“, sprechen sie höhnisch.

      „Dann weiß ich, wer ihr seid, ihr könnt mich nicht mehr täuschen“, triumphiere ich.

      Stille! Wie wohltuend bist du, ich erkenne mich und andere in dir. Stille, ich danke dir!

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