»Wenn es dich tröstet, wir müssen das Ziel unserer Fahrt bald erreichen, meine Beste. Nur dieser ewige Stau erschwert unsere Arbeit mehr, als alle widrigen Umstände.«
Bella blies in ihre geröteten Finger die sich, wie Eiszapfen anfühlten. »Bei der Leiche von Jack … .«
»Welcher Jack? Kenne ich ihn? Doch nicht etwa Jack Fletscher?« Bei der Erwähnung des Namens hellte sich sein Lächeln auf, als wolle er in die Hände klatschen und rufen: Was für ein toller Abend. Es war unmöglich in seiner Gegenwart zu schimpfen, alles hinterfragte er oder stellte unsinnige Theorien auf.
»Warum habe ich auf dich gehört und mit nichts Bequemes angezogen?«
»Damit wir einen guten Eindruck machen und sieh mich nicht an, als hätte ich das Kleid genäht und die Taschen absichtlich ausgelassen und lenke nicht ab, welcher Jack?«
»Nicht Jack Fletscher, wer immer das ist! Zufrieden?«
»Ach so«, er klang enttäuscht und sprang zum nächsten Thema. »Vielleicht sollte ich uns einen Heißluftballon anschaffen, dann wären wir einmal rechtzeitig zur Stelle etwas zu verhindern, anstatt sie immer nur in Asche zu verwandeln.«
Auf dem Bock saß, in einen schwaren Regencape gehüllt den Bowlerhut gegen den Wind tief in die Stirn gezogen der Kutscher und lenkte sein Pferd ohne viele Geräusche zu machen, außer einem gelegentlichen Schnalzen mit der Zunge über die PrachtStraße von the Mall. Seine Peitsche benutzte er nur, um das Pferd leicht anzustupsen. Der Kutscher war sympathisch, auch wenn sein Gesicht geradezu nach dem Gerichtshof Old Bailey schrie. Früher hätte man ihn einfach wegen seines Aussehens nach Tasmanien verbannt.
Gilbert plapperte wieder, er bestand nur aus seinem Mund, alles andere an seinem Körper war Ballast. »Obwohl uns der Minister im letzten Haushalt höhere Spesen für die Kutschfahrten bewilligte, reicht unser Etat gerade einmal für ein Gig zweiter Klasse. Ich muss zugeben, dass ich total abgebrannt bin und meinen Vater nicht wieder um einen Kredit bitten will.« Er sah sie aufmunternd an. Trotz seiner höflichen Einladung zum Small Talk schwieg Bella und es ging nur erbärmlich langsam voran. The Mall war von Kutschen verstopft. Hin und wieder mischte sich ein mit Waren beladenes Gespann in die zumeist elegante Fahrzeugkolonne und Offiziere in Uniform ritten zur Belustigung aus. Sie befanden sich auf dem heftigsten Abschnitt einer, der am dicht befahrenen HauptverkehrsStraßen Britanniens, die sich von der City of London bis zur Universität von Westminster erstreckt und ab dort einen anderen Namen trägt und aussieht, wie der Verwandte für den man sich schämt.
Bella ließ sich nicht gerne hetzen und das hatte Gilbert seit dem Mittag getan. Tausendmal verbot er ihr irgendwelche Sachen, die sie wieder alle vergessen hatte und außerdem meckerte er über ihre Kleidung bis sie auissah als fahren sie zu einer Beerdigung. Aber sie mochte Tiere und der wackelnde Gang des Pferdehinterns stimmte sie versöhnlich.
»Wir sind jetzt in der Nähe des Buckingham Palace, wenn wir Glück haben sehen wir eine wichtige Person, vielleicht sogar die Queen ausreiten. Nun die Queen wohl eher nicht, immerhin ist sie sechsundsiebzig.« Er drehte die Handinnenflächen nach oben und machte ein überraschtes Gesicht, »Ich glaube kaum, das Queen Victoria im Regen ausreitet. Ich habe gehört, dass neue Stück von Oscar Wilde soll ein riesiger Erfolg sein und den Zuschauern die Lachtränen ins Auge treiben.« Der Inspektor war vielseitig interessiert. Andauernd ging er in eines der zahlreichen Londoner Theater und sein Ausweis für die zweihundert öffentlichen und privaten Bibliotheken in London war so abgegriffen, wie die Hand einer alten Frau.
»Ich bin nicht verblüfft, dass du ein Freund der Komödie bist. Du bist im Moment selber total Lachhaft. Dein Silberpulver ist totaler Mist!«, erinnerte sie ihn, damit er nicht vor Glück aus der Kusche schwebte und ihr die Arbeit alleine überließ.
Er seufzte, sein Lächeln aufrechthaltend. Ihre Wangen waren von Kälte gerötet und ihre Lippen hatten eine violette Farbe angenommen und sie zitterte erbärmlich. Er steckte wirklich in einer Zwickmühle, denn am liebsten hätte er ihr seinen Astrachan Mantel um die Schultern gelegt, aber das ging wegen ihres gesellschaftlichen Standes nicht und in dieser Gegend, wo er einfach damit rechnen musste von irgendwem erkannt zu werden. In den Seitenstraßen von The Mall wohnten seine Freunde und Bekannten in ihren eleganten Häusern. Gilbert wollte sie vom kalten Wetter ablenken. »Sieh der Buckingham Palace!«
Bella sah nicht einmal in die Richtung sondern rieb die Hände aneinander, als wolle sie Feuer entfachen. »Na und?«
»Welche Anmut und Grazie was für ein Symbol unserer großartigen Nation.«
»Du stammst doch aus London und hast den Kasten doch schon X-Mal gesehen, warum machst du so ein Aufruhr?«
Der Kutscher nickte, vermutlich hing ihm der Anblick des Schlosses auch zum Hals heraus. Als zeige man einem immer wieder ganz begeistert den Briefkasten in seiner Straße oder einen bestimmten Laternenmast.
»Ich stamme aus dem Berkeley Square eine der ersten Adressen in Mayfair, um präzise zu sein.«
Bella rümpfte die Nase. »Aus Mayfair, kein Wunder. Nur Dandys und Spinner die mit dem goldenen Löffel im Mund geboren werden. Die kleinen Hosenscheißer bekommen mit zehn ihren eigenen Butler damit sie sich nicht selber anziehen müssen. Immer wenn ich die kleinen Scheißer in ihren Matrosenanzügen und mit ihren Gouvernanten sehe, will ich sie ohrfeigen. Ich habe dort vor drei Jahren einen Traditionalisten erledigt. Als ich durch das Fenster in seine Wohnung im dritten Stockwerk geklettert bin und ihm den Silberdorn ins Herz rammte, zischte er mich an, weil ich nicht den Dienstboteneingang genommen habe.«
»Nun, ich verstehe seinen Standpunkt, aber du warst dienstlich unterwegs und nicht immer kann man sich an die Etikette halten.« Gilbert zog seinen Wintermantel aus und warf ihn auf ihren Schoß. »Wie warm es im November ist! Halt ihn für mich.«
Bella sah überrascht auf. Solche Gesten verwunderten und erschreckten sie. Sie war einfach nicht daran gewöhnt. Sie hatte anerzogen bekommen um Dinge zu kämpfen, aber nicht das ihr jemand etwas freiweilig gab.
»Du Dummkopf«, fuhr er sie an, »lege ihn um deine Schultern damit er nicht zerknittert.«
»Mir ist nicht kalt.«
»Was hat das damit zu tun. Mir ist warm und du wirst doch nicht erwarten das ich ihn trage, wenn meine Assistentin beide Hände frei hat!« zufrieden beobachtete er wie sie in dem großen Mantel fast versank und ihr Bibbern aufhörte. Gilbert sah geradeaus, und versuchte angestrengtsie zu ignorieren. Manchmal war er von sich selber überrascht und von seinem dummen Grinsen, das sich von alleine in sein Gesicht schlich, wenn er sie ansah. Vor ihnen stand ein Pferdeomnibus und entlud die wenigen Passagiere die am frühen Abend nach Hause eilten. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, ihn nicht darauf anzusprechen hielt sie die Neugier nicht aus. Seit Conan Doyles Romane in den Zeitungen abgedruckt wurden, hielt er sich für Sherlock Holmes, obwohl er zu neunzig Prozent daneben lag, außer beim Offensichtlichen. Wenn sie jetzt mit blauen Fingerkuppen herumlief hatte sie wohl in der letzten Zeit mit Tinte hantiert, weil er den Verschluss des Tintenfasses nicht aufbekam. »Was ist? Es ist nur ein Bus?«
»Dummkopf, es ist nicht der Bus, aber das er pünktlich ist. Die Kutscher der grünen Linie haben eine Wette laufen, wer die längste Verspätung aufweisen kann.«
»Der Geist machte komische Geräusche. Es klang tatsächlich, wie ein Kichern«, beschwerte sich Bella und versuchte seine Gedanken wieder auf das Thema Arbeit zu bringen. Es ging ihr gegen den Strich, wenn Gilbert vergnügt war, als hätte er den Hauptpreis von fünftausend Pfund in der Lotterie gewonnen, wenn sie zu einer angeblichen Schönheit fuhren, zumindest behauptete Gilbert das von Victoria Buckingham. Aber er hatte keine Ahnung und hielt alles für schön, was ein blasses Vollmondgesicht, roten Wangen und ein aufgesetztes Lachen hatte. Sie sah ihn an, als sei er ihr Welpe, der sie unbeachtet lässt, aber schwanzwedelnd zu einem Anderen rennt. Er ging ihr schon seit dem Morgen auf die Nerven und sie war mehr, als einmal der großen Versuchung ausgesetzt gegen seine langen Beine zu treten. Wieso hatte er überhaupt so lange Stelzen?
Gilbert sah aus der Kutsche an den Abendhimmel und dann auf die vom Wind geschüttelten Plantanen und die gegen den Sturm kämpfenden Menschen die ihre Regenschirme als Schilde vor sich