ich hatte es ihm nachgetan. „Scheiße“, sagte ich nun und breitete die Arme aus. Der dünne Stoff meines Kleides sog sich binnen weniger Sekunden mit Wasser voll.
Malte schaute mich an. „Ich würde sagen, wir türmen.“ Keuchend und klatschnass rannten wir durch die Gassen, bis wir uns verirrt hatten. Irgendwann, es hörte nicht auf zu gießen, suchten wir unter einem Balkon Schutz. Ich schaute auf das Straßenschild, fand die winzige Gasse aber nur mit Mühe auf dem Stadtplan.
Wir standen mindestens zwei Kilometer weit weg von der Moldau, die wir hätten überqueren müssen, um zum Jüdischen Museum zu gelangen. Ohne lange zu überlegen, betraten wir das erstbeste Lokal. Wir waren die einzigen Gäste. Die holzgetäfelten Wände und die Hirschgeweihe erinnerten mich an eine Tiroler Hütte. Im Fernsehen lief stumm ein Fußballspiel vor sich hin, aus dem Lautsprecher ertönte der letzte Hit von Rihanna. Wir wärmten unsere vor Kälte zitternden Körper mit Kaffee und ließen uns mit Blaubeerknödel verwöhnen. Malte erzählte von seinem nächsten Stück, einem Märchen, in dem er die Rolle eines lebendig gewordenen Kekses spielen würde.
„Und du?“, fragte er. „Du solltest weiter schreiben, unbedingt.“
„Ja, mit Sicherheit. Und weiter in dem Büro arbeiten werde ich auch. Und wer weiß, vielleicht werde ich auch noch schwanger.“
Ich biss mir auf die Zunge, doch es war zu spät. „Weiß ich nicht …“, sagte er und kniff seine Augenbrauen zusammen.
„Schon gut. Wir müssen jetzt nicht darüber reden. Es tut mir leid.“
„Wir haben schon alles zu dem Thema gesagt. Ich bin mir einfach nicht sicher.“
„Ja, sorry. Kommt nicht mehr vor.“
Ich strich ihm eine Locke aus der Stirn. Er lächelte gequält. Als wir mit dem Nachtisch fertig waren, drängte sich ein Sonnenstrahl durch die dunkle Wolkendecke und tauchte den düsteren Raum in goldenes Licht.
„Verdauungsspaziergang?“, schlug Malte vor. Obwohl mein nasses Kleid mich vor Kälte zittern ließ, nickte ich.
Auf einer Anhöhe entdeckten wir eine Parkanlage, es roch nach feuchtem Gras und Harz. Das rege Treiben hatten wir hinter uns gelassen, die hohen Backsteinmauern, die den Park umgaben, waren die Grenzen zu einer Parallelwelt. Eine Amsel sang in den Wipfeln einer Eiche, Insekten summten über den Rosenbeeten. Wir liefen lange Hand in Hand, ohne ein Wort zu sagen, jeder in Gedanken versunken. Es erfüllte mein Herz mit Freude, einfach mit ihm zusammen zu sein. Es kam allmählich ein Gedanke hoch, von dem ich wusste, dass er richtig war: Ich würde Malte nicht mehr mit dem Thema Familiengründung oder Zusammenziehen bedrängen. Ich würde ihm noch Zeit lassen. Biologisch gesehen musste ich mich nicht beeilen. Irgendwann, da war ich mir sicher, würde ein gemeinsames Kind unser Glück krönen, aber bis dahin konnte ich mich gedulden. Es war heutzutage nichts Ungewöhnliches, mit Mitte oder gar Ende dreißig ein Kind zu bekommen. Abends im Hotel liebten wir uns, während Blitze den Nachthimmel aufrissen. Erst als ich mich im Bad abschminkte und mir die Zähne putzte, merkte ich, dass ich meine Pillenpackung in Berlin vergessen hatte. Ich zuckte zusammen.
Mein erster Gedanke war, dass ich so schnell wie möglich die „Pille danach“ schlucken musste. Nur war der kommende Tag ein Samstag, ich hatte keine Ahnung, wo in Prag ein Arzt zu finden war, der mir das Rezept hätte ausstellen können, und den zweiten Tag unseres romantischen Wochenendes in einer Notsprechstunde zu verbringen war das Letzte, was ich wollte. Ich verfluchte meine Angewohnheit, die Reisetasche auf den letzten Drücker zu packen, und versuchte, tief ein- und auszuatmen. Bis Montag, wenn wir zurückkämen, wäre es zu spät. Und wenn ich den Unfall vergessen und einfach darauf hoffen würde, meine Regel zu bekommen? Die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, nur weil man einmal die Pille vergessen hat, war nicht so wahnsinnig hoch. Und hörte man nicht immer, dass der Körper, selbst wenn man die Verhütung freiwillig absetzte, manchmal Monate brauchte, um sich von den zusätzlichen Hormonen zu erholen?
Unter der heißen Dusche sammelte ich meine Gedanken. War es Betrug, wenn ich ihm nichts von dem Unfall erzählte und dann doch der unwahrscheinliche Fall eintrat, dass ich schwanger wurde? Er war der erste Mann, der mich wirklich liebte und mit Respekt behandelte, und ich war dabei, ihn zu belügen.
Ich trocknete mich ab, schlüpfte unter die Decke und knipste das Licht aus. Neben mir lag Malte. In der Dunkelheit konnte ich nur die Umrisse seines Körpers erahnen. Er drehte sich um und legte einen Arm um meine Taille. Ich harrte mindestens zehn Minuten mit offenen Augen aus. Erst dann löste ich mich vorsichtig aus seiner Umarmung, tapste ans Fenster und betrachtete die Lichter der Stadt, die wie Glühwürmchen die Nacht erhellten. Meine Gedanken rasten. Wenn ich Malte von dem Unfall erzählte, würde er mir, so viel, wie ich in letzter Zeit von Nachwuchs geredet hatte, mit Sicherheit nicht glauben. Er würde mir unterstellen, ihm ein Kind unterjubeln zu wollen, oder mich zumindest verdächtigen. Wenn ich ihm dagegen nichts sagte und nicht schwanger wurde, was am wahrscheinlichsten war, würde ich weder meine Beziehung belasten, noch irgendwelche Konsequenzen fürchten müssen. Also beschloss ich zu schweigen. An das Worst-Case-Szenario wollte ich nicht denken.
Meine Regel bekam ich pünktlich an einem Freitagmorgen, zwei Wochen nach unserem Trip. Erleichtert seufzte ich auf und holte mir einen Tampon aus dem Schrank. Erst auf dem Weg ins Büro überfiel mich eine leichte Melancholie. Ich war nach dem Studium von einem Ingenieurbüro übernommen worden, in dem ich als Studentin gearbeitet hatte, das Projekte im Bereich der alternativen Energien betreute, aber mein Vertrag war vorerst auf anderthalb Jahre befristet worden. Als ich ihn unterzeichnete, hatte ich mir ausgemalt, dass ich nach einem Jahr sowieso schwanger sein und nach Ablauf des Vertrags direkt in den Mutterschutz rutschen würde. Malte machte aber keine Anstalten, eine Entscheidung zu treffen, obwohl er anfangs immer betont hatte, Kinder haben zu wollen. Bis August kommenden Jahres war ich angestellt. Dass seine Meinung sich bis dahin ändern würde, hielt ich mittlerweile für unwahrscheinlich. Einmal die Woche fand in der Firma eine Gruppenrunde statt, in der man die Kollegen über die eigenen Projekte informierte. Stephan, der Programmierer, hatte an jenem Tag Sekt und Kuchen mitgebracht, um seinen Geburtstag zu feiern. Da ich aber seit Wochen versuchte, meinen Winterspeck loszuwerden, lehnte ich dankend ab.
„Ist ein Geschwisterchen für Fynn unterwegs?“, witzelte Marcus, unser Praktikant. Ich verzog den Mund und schüttelte den Kopf. Regelmäßig fielen in meinem Umfeld Andeutungen darauf, dass ich sicherlich bald wieder schwanger wäre. Schließlich war Fynn alt genug, mein Studium hatte ich beendet, und Fynn, Malte und ich gaben eine Traumfamilie ab.
Nach einer zweistündigen Gruppenrunde brach ich auf der Damentoilette in Tränen aus. Zum Glück war meine einzige weibliche Kollegin krank, und die Sekretärin hatte Urlaub. Ich hätte erleichtert sein müssen, weil ich meine Regel bekommen hatte, aber alles, was ich spürte, war Traurigkeit. Ich war mir sicher, dass Malte und ich auch für unser gemeinsames Baby tolle Eltern wären. Meine damalige Armut und die Trennung von meinem Ex-Mann hatten meine erste Mutterschaft überschattet. Wie schön es gewesen wäre, dieses Glück jetzt, unter anderen Voraussetzungen, mit einem verantwortungsvollen Mann an meiner Seite, noch einmal zu erleben!
Obwohl das ganze Team, wie fast jeden Freitag, beim Griechen um die Ecke essen ging, verbrachte ich die Mittagspause auf einem einsamen Grasfleck hinter dem Büro. Offiziell war es ein Spielplatz, aber nie hatte ich ein Kind dort klettern oder rutschen sehen. Was auch kein Wunder war, denn in der Nähe gab es außer Bürokomplexen und Forschungseinrichtungen nicht viel. Ich stieg eine kleine Holzleiter hoch, saß eine halbe Stunde auf einer Spielhütte und ließ die Beine baumeln. Der Blick auf die Spree ließ mich aufatmen. Es herrschte Windstille, das Wasser sah so glatt aus wie auf einer Postkarte, das Sonnenlicht brach sich auf der Oberfläche in tausend kleine Glitzerschuppen. Nur ein paar vorbeidösende Motorboote und Hundebesitzer, die mit ihren Vierbeinern an der Uferpromenade Gassi gingen, durchschnitten ab und an die Ruhe.
Ich dachte, dass es keinen Ausweg gab. Verzichtete ich für ihn auf eine zweite Schwangerschaft, würde ich mit der Zeit unsere Beziehung vergiften. Ich hatte Zeit. Ich war noch jung. Wir waren erst seit einem Jahr zusammen. Doch er war zehn Jahre älter als ich und konnte sich trotzdem nicht entscheiden. Was, wenn er es nie tun würde? Nicht mit vierzig, nicht mit fünfundvierzig? Bis es zu spät wäre? Als ich meine Kollegen in der Ferne auf mich