Edgar Wallace

Edgar Wallace - Gesammelte Werke


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Smith machte nun einen offenkundigen Besuch am hellen Tage. Außerdem hatte er zwei Detektive mitgenommen und sie vor dem Haupteingang Aufstellung nehmen lassen, denn er wollte nicht unnötig Gefahr laufen.

      Er stieg die vier breiten Marmorstufen der vorderen Treppe zur Haustür empor, strich seine Schuhe auf einer merkwürdigen Metallmatte ab und drückte die Glocke. Die Haustür selbst war durch einen Vorhang halb verborgen, wie man sie in den Hausfluren der Vorstadtwohnungen findet. Sie bestehen gewöhnlich aus bunten Perlenschnüren oder langen Bambusstäbchen. Hier waren auch Schnüre zu sehen, aber es waren Tausende von Stahlkügelchen, auf feinen Drähten aufgezogen, die von einem Stab über der Tür herunterhingen. Man konnte annehmen, die ganze Haustür sei aus Stahl, aber als sie sich öffnete, zog sich der Vorhang ähnlich wie auf der Bühne zurück. Dieser Vorhang schien zwangsläufig mit dem öffnen der Tür in Verbindung zu stehen.

      Im Eingang stand ein schlanker Mann. Sein großes Gesicht war bleich, seine Augen ausdruckslos. Er trug einen gutsitzenden schwarzen Anzug und hatte die achtungsvolle Haltung eines obersten Hausbeamten.

      »Mr. Smith von Scotland Yard«, stellte sich der Besucher kurz vor. »Ich möchte Mr. Moole sprechen.«

      Der Mann sah ihn argwöhnisch an.

      »Wollen Sie bitte näher treten«, sagte er dann und geleitete ihn in ein großes, vornehm eingerichtetes Wohnzimmer. »Ich fürchte, Sie können Mr. Moole nicht sehen. Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist er leidend. Aber wenn ich etwas für Sie tun kann –«

      »Sie können mich zu Mr. Moole bringen«, wiederholte Mr. Smith lächelnd, »sonst nichts.«

      Der Mann zögerte.

      »Wenn Sie darauf bestehen –«

      Der Detektiv nickte.

      »Ich bin sein Sekretär und sein Arzt – Dr. Fall. Ich werde nachher Schwierigkeiten bekommen – vielleicht teilen Sie mir mit, in welcher Angelegenheit Sie kommen?«

      »Das werde ich Mr. Moole selbst erklären.«

      Der Arzt verbeugte sich.

      »Dann kommen Sie bitte mit.« Er führte Mr. Smith durch die große Eingangshalle und öffnete eine einfache Tür, die zu einem kleinen Lift führte. Dann trat er zur Seite, um den Detektiv zuerst eintreten zu lassen.

      »Bitte nach Ihnen«, sagte Mr. Smith höflich.

      Dr. Fall lächelte und ging voran; Mr. Smith folgte ihm.

      Sie fuhren rasch in die Höhe bis zum dritten Stock.

      Die innere Einrichtung des Hauses ist ähnlich wie in einem Hotel, dachte Mr. Smith.

      Mit dicken Teppichen belegte Gänge führten von dem Fahrstuhl nach rechts und links, und die lange Wand vor ihm war in regelmäßigen Zwischenräumen von Türen unterbrochen. Dr. Fall ging den linken Korridor entlang bis zum Ende und öffnete eine große Tür aus Rosenholz, worauf eine innere Tür sichtbar wurde. Der Arzt öffnete auch diese und trat in ein geräumiges Zimmer. Mr. Smith folgte ihm. Der Raum war nur spärlich möbliert, trotzdem aber kostbar ausgestattet. Die Wände waren mit einer Täfelung von poliertem Myrtenholz überzogen. Auf einem viereckigen tiefblauen, schweren Teppich stand eine silberne Bettstelle in der Mitte des Zimmers. Aber weder die sonderbare Einrichtung noch der reichvergoldete kleine Tisch, der vor dem Bett stand, noch der prachtvolle elektrische Kronleuchter erregten die Aufmerksamkeit von Mr. Smith. Sein Blick wurde sofort von dem Mann gefesselt, der in dem Bett lag.

      Er hatte eine merkwürdige gelbe Gesichtsfarbe, und seine Augen blickten so teilnahmslos, daß man ihn für eine Wachsfigur hätte halten können. Nur an den regelmäßigen Atemzügen und an dem krampfhaften Zucken der Lippen war zu erkennen, daß der Mann lebte. Das Gesicht war ausdruckslos und leer, die Augen hart und glanzlos. Der Detektiv schätzte das Alter des Mannes auf etwa siebzig Jahre.

      »Dies ist Mr. Moole«, sagte Dr. Fall verbindlich. »Ich fürchte nur, Sie werden nicht viel zu hören bekommen, wenn Sie mit ihm sprechen.«

      Mr. Smith trat an die Seite des Bettes und begrüßte den Mann durch ein Kopfnicken, aber dieser reagierte nicht darauf.

      »Wie geht es Ihnen, Mr. Moole?« fragte Mr. Smith höflich. »Ich bin von London gekommen, um Sie zu besuchen.«

      Aber die eingesunkene Gestalt in den Kissen gab kein Zeichen von sich, daß sie seine Worte verstanden hatte.

      »Wie heißen Sie?« fragte Mr. Smith nach einer Weile.

      Einen Augenblick belebten sich die Züge des alten Mannes, und es schien ein schwaches Verständnis in ihm aufzudämmern.

      »Jim Moole«, sagte er mit heiserer, krächzender Stimme, »der arme, alte Jim Moole. Hab niemand nix getan.«

      Er warf einen scheuen, furchtsamen Blick auf Dr. Fall, dann schlossen sich seine blutleeren Lippen wieder, und obgleich Mr. Smith sich die größte Mühe gab, konnte er ihn nicht wieder zum Sprechen bringen.

      Schließlich verließ er das Zimmer.

      »Sie werden mir recht geben«, meinte der Arzt höflich, »daß Mr. Moole nicht in der Lage ist, eine längere Unterhaltung zu führen.«

      »Darin stimme ich mit Ihnen überein«, erwiderte der Detektiv liebenswürdig. »Ein amerikanischer Millionär – das ist Mr. Moole doch wohl?«

      Dr. Fall beobachtete Mr. Smith scharf und ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen.

      »Ja, Mr. Moole ist ein amerikanischer Millionär«, wiederholte er.

      »Er spricht nur nicht wie ein Amerikaner. Selbst wenn man seine Geisteskrankheit in Betracht zieht, bleibt diese Tatsache merkwürdig.«

      »Von welcher Tatsache sprechen Sie?« fragte Dr. Fall schnell.

      »Wir haben hier einen amerikanischen Millionär vor uns, einen Mann, der doch wahrscheinlich einige Bildung und Kultur besitzt, die sich bis zu einem gewissen Grade auch in seiner Sprache äußern müßte. Es ist doch sehr sonderbar, daß er wie ein gewöhnlicher Landarbeiter aus Somerset spricht.«

      »Wie meinen Sie das?« fragte der Arzt schroff.

      »Genauso, wie ich es sage. Er spricht in dem Dialekt eines Mannes, der in Somerset aufgewachsen ist. Mr. Moole besitzt offenbar nur eine sehr geringe Bildung, und ich habe nicht den Eindruck, daß er ein amerikanischer Millionär ist.«

      »Sie sind anscheinend noch nicht oft mit Geisteskranken zusammengekommen, sonst wäre Ihnen sicher bekannt, daß diese unglücklichen Menschen weder in ihrer Sprache noch in ihren Handlungen ihre frühere gesellschaftliche Stellung erkennen lassen.«

      Dr. Fall führte den Detektiv wieder zu dem Fahrstuhl, aber Mr. Smith lehnte es ab, hinunterzufahren.

      »Ich möchte lieber gehen.«

      Er hatte einen guten Grund dafür, denn er wollte dabei das Haus näher kennenlernen und die Lage der einzelnen Räume feststellen. Dr. Fall hatte nichts dagegen einzuwenden und führte ihn die Treppe hinunter, die mit weichen, roten Läufern belegt war.

      »Ich weiß sehr wohl über Geisteskranke Bescheid«, sagte Mr. Smith, »besonders über solche, die dem niederen Volk und der Verbrecherklasse angehören.«

      »Sie scheinen meinen Worten nicht glauben zu wollen.« Dr. Fall sah seinen Besucher stirnrunzelnd an. »Ich muß nachdrücklich betonen, daß ich nicht nur Mr. Mooles Sekretär, sondern auch Arzt bin.«

      »Das ist mir nicht neu«, erwiderte Smith lächelnd. »Sie sind amerikanischer Arzt und haben in Pennsylvanien Ihr Examen gemacht. Sie kamen an Bord der ›Lucania‹ nach England, weil Sie New York sehr schnell verlassen mußten, da Sie in irgendeine Skandalaffäre verwickelt waren. Es ist tatsächlich leichter, Ihren Werdegang seit Ihrer Ankunft in diesem Lande zu verfolgen, als genaue Auskunft über Mr. Moole zu erhalten, der obendrein auch auf der amerikanischen Gesandtschaft nicht bekannt ist.« – Dr. Fall wurde dunkelrot.

      »Sie überschreiten Ihre Amtsbefugnisse«, sagte er böse, »wenn Sie auf eine Tragödie