Welchen Schluß ziehen Sie daraus?«
»Die Narzissen, die auf Lynes Brust gefunden wurden, waren Goldsporen.«
Er kniete neben dem Beet nieder, bog die Stauden auseinander und betrachtete die Pflanzen genau.
»Sehen Sie hier.« Er zeigte auf mehrere abgebrochene Stengel.
»Hier sind die Narzissen gepflückt worden, darauf möchte ich einen Eid leisten. Sie sind alle mit einem Griff abgerissen worden.«
»Es können aber auch unnütze Buben hier Blumen abgerupft haben.«
Whiteside sah ihn zweifelnd an.
»Blumendiebe pflegen nur einzelne Blüten abzubrechen«, entgegnete Tarling. »Die meisten Leute, die das tun, vermeiden es sorgfältig, an einer Stelle zu viele abzupflücken, damit es den Parkwächtern nicht auffällt.«
»Dann vermuten Sie also –«
»Ich vermute, daß der Täter – mag es nun ein Mann oder eine Frau sein – aus irgendeinem Grund, den wir vorläufig noch nicht kennen, die Leiche mit Blumen schmückte. Und er nahm die Blumen von diesem Beet.«
»Nicht aus der Wohnung von Odette Rider?«
»Nein«, erwiderte Tarling nachdenklich. »Mir war das schon klar, als Sie mir die Blumen in Scotland Yard zeigten.«
Whiteside fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Je weiter wir mit der Aufklärung dieses Falles kommen, desto rätselhafter wird mir die Sache. Also haben wir hier einen reichen Mann, der offensichtlich keine Todfeinde hatte. Er wird eines Morgens im Hydepark aufgefunden, das Nachthemd einer Dame ist um seine Brust geschlungen, er hat Filzschuhe an, in seiner Tasche findet man einen Zettel mit einer chinesischen Inschrift – und obendrein ist ein Strauß gelber Narzissen auf seine Brust gelegt. So etwas kann nur eine Frau getan haben«, fügte er plötzlich hinzu.
Tarling sah ihn groß an.
»Warum meinen Sie das?«
»Nur eine Frau konnte dem Toten Blumen auf die Brust legen«, sagte Whiteside ruhig. »Diese gelben Narzissen sprechen von Mitgefühl und Mitleid – vielleicht auch von Reue.«
Tarling lächelte unmerklich.
»Mein lieber Whiteside, nun werden Sie sentimental.« Er blickte auf. »Sehen Sie einmal, wie von diesem Platz angezogen, taucht wieder der Herr auf, den ich überall treffen muß – Mr. Milburgh.«
Milburgh war plötzlich stehengeblieben, als er die beiden Detektive bemerkte. Man konnte ihm ansehen, daß er am liebsten unbemerkt verschwunden wäre. Aber Tarling hatte ihn bereits entdeckt, und so kam er nun in einem merkwürdig schleichenden Gang näher. Obwohl er seine Verlegenheit unter einem Lächeln zu verbergen suchte, erkannte Tarling doch den ängstlichen, unsicheren Blick wieder, den er schon früher einmal an ihm beobachtet hatte.
»Guten Morgen, meine Herren«, sagte Milburgh und grüßte die beiden, indem er den Hut abnahm. »Etwas Neues ist wohl noch nicht entdeckt worden?«
»Auf jeden Fall hatte ich nicht erwartet, Sie heute morgen hier zu entdecken!« erwiderte Tarling mit einem spöttischen Lächeln. »Ich dachte, Sie hätten im Geschäft genug zu tun.« Milburgh fühlte sich unbehaglich.
»Dieser Ort übt eine gewisse Anziehungskraft auf mich aus«, sagte er dann heiser. »Immer wieder treibt es mich, hierher zu kommen.«
Als Tarling ihn scharf ansah, senkte er verlegen den Blick.
»Haben Sie irgendwelche neuen Nachrichten über den Täter?« fragte er wieder.
»Das möchte ich Sie fragen«, entgegnete Tarling ruhig.
Milburgh sah ihn nervös an.
»Sie meinen doch nicht etwa Miss Rider?« fragte er. »Nein, Mr. Tarling, es hat sich nichts gefunden, was gegen sie spräche. Ich kann aber ihren gegenwärtigen Aufenthalt nicht feststellen, obgleich ich mir die größte Mühe gegeben habe. Es ist wirklich beunruhigend.«
Tarling bemerkte eine Änderung in seinem Verhalten. Er konnte sich noch sehr gut darauf besinnen, wie Milburgh Lyne gegenüber zuerst entschieden in Abrede stellte, daß Odette gestohlen haben könne. Aber jetzt war er ihr irgendwie feindlich gesinnt, der Unterton in seiner Stimme sagte Tarling genug.
»Glauben Sie denn, daß Miss Rider Grund hatte zu fliehen?«
Milburgh zuckte die Schultern.
»In dieser Welt«, meinte er salbungsvoll, »wird man immer von denen am meisten getäuscht, denen man das größte Vertrauen geschenkt hat.«
»Sie wollen also damit sagen, daß Sie Miss Rider im Verdacht haben, daß sie die Firma beraubt hat?«
Aber sogleich erhob Milburgh abwehrend seine großen Hände.
»Nein, das will ich nicht behaupten. Ich möchte eine junge Dame nicht anklagen, daß sie ihre Vorgesetzten in einer solchen Weise betrogen hat, und ich lehne es ausdrücklich ab, irgendwelche Anschuldigungen zu erheben, bevor die Bücherrevisoren nicht ihre Arbeit beendet haben. Zweifellos«, fügte er hinzu, »hat Miss Rider große Summen in der Hand gehabt und war zuerst von allen Damen an der Kasse in der Lage, irgendwelche Unterschlagungen zu machen, ohne daß ich oder Mr. Lyne es gleich hätten merken können. Aber dieses teile ich Ihnen nur im Vertrauen mit.«
»Haben Sie keine Ahnung, wo sie sein könnte?«
Milburgh schüttelte den Kopf.
»Das einzige, was ich –«, er zögerte und sah Tarling unsicher an.
»Nun, was wollten Sie sagen?« fragte der Detektiv ungeduldig.
»Es ist allerdings nur eine Vermutung von mir, daß sie vielleicht außer Landes gegangen ist. Ich möchte unter keinen Umständen diese Behauptung aufstellen, ich weiß nur, daß sie sehr gut französisch sprach und auch schon früher auf dem Festland war.«
Tarling schaute ihn nachdenklich an.
»Nun, in diesem Fall muß ich eben den Kontinent absuchen lassen. Denn ich bin fest entschlossen, Odette Rider aufzufinden.«
Er winkte seinem Assistenten und drehte sich kurz um. Mr. Milburgh schaute betroffen hinter ihm her.
10.
Tarling kam am Nachmittag in niedergeschlagener Stimmung heim. Dieser Fall gab ihm so viele Rätsel auf, daß er sich im Augenblick nicht zu helfen wußte. Ling Chu kannte von früher her solche Depressionen bei seinem Herrn. Aber diesmal entdeckte er etwas Neues in dessen Verhalten. Er erschien ihm unnötig erregt, und er glaubte eine Ängstlichkeit an ihm wahrzunehmen, die diesem Jäger der Menschen bisher vollständig fremd gewesen war.
Der Chinese bereitete lautlos den Tee für seinen Herrn und hütete sich, etwas über den Fall oder Einzelheiten der Untersuchung zu erwähnen. Er rückte den Tisch an die Seite des Bettes und wollte eben geräuschlos wie eine Katze aus dem Raum verschwinden, als Tarling ihn anhielt.
»Ling Chu«, sagte er auf chinesisch, »du besinnst dich doch darauf, daß die ›Freudigen Herzen‹ in Schanghai immer ihren ›hong‹ zurückließen, wenn sie ein Verbrechen begangen hatten.«
»Ja, Herr, ich erinnere mich sehr gut daran. Es standen bestimmte Worte auf dem Papier. Später konnte man sie in den Läden kaufen. Denn die Leute wollten diese merkwürdigen Zettel haben, um sie ihren Freunden zu zeigen.«
»Viele Leute trugen damals diese Papiere«, erwiderte Tarling langsam. »Und ein Papier mit dem Zeichen der ›Freudigen Herzen‹ wurde auch in der Tasche des Ermordeten gefunden.«
Ling Chu sah ihn mit unerschütterlicher Ruhe an.
»Herr«, sagte er dann, »ist es nicht möglich, daß der Mann mit dem weißen Gesicht, der jetzt tot ist, solche Dinge von Schanghai mitgebracht hat? Er war doch ein Tourist. Und solche Leute heben doch immer törichte Andenken auf.«
Tarling nickte. »Das wäre möglich. Ich habe