zusammen. Man holte eine Bahre und trug ihn in eine Art Ambulanz. Judith ließ Rinaldo wieder ins Auto springen, ließ nur einen schmalen Spalt an den hinteren Fenstern offen und drückte die Kindersicherung runter, so dass er sich nicht wieder selbst befreien konnte. Dann trug sie Elsterhorsts Gepäck in die Halle. Gegenüber der Direktorin, die sich inzwischen mit ziemlicher Drohgebärde als Frau Dr. Frost-Heimbusch Judith gegenüber aufgebaut hatte, gab sie sich als jene Frau zu erkennen, die erst kürzlich mit ihr die überaus einladenden Gespräche wegen ihres Kollegen Elsterhorst geführt hätte. Einladend sei aber bisher nichts gewesen. Sie sei sehr besorgt, dass ihr Kollege nicht die liebevolle Betreuung und Ruhe finden würde, die ihr wortreich zugesichert worden war.
Frau Dr. Eleonor Frost-Heimbusch ließ Judith noch nicht einmal in die Ambulanz, um sich von Elsterhorst zu verabschieden, da sie nicht mit ihm verwandt sei. Und nun solle sie sich schleunigst samt ihrem teuflischen Hund auf den Heimweg begeben.
Judith baute sich mit einem zynischen Lächeln vor der Direktorin auf und raunte ihr zu: „Ich vermute, diese Art der Begrüßung und Behandlung von Gästen und Patienten wird noch ein Nachspiel haben. Ihr Prospekt und Ihre werbend freundlichen Sprüche am Telefon weichen offenbar krass von der Realität ab. Das kann man auch in Facebook posten. Der Hausarzt von Kriminal-Hauptkommissar Elsterhorst wird sich in aller Kürze mit Ihnen in Verbindung setzen! Ich bin in großer Sorge um den Patienten. Auf Wiedersehen!
Kurz nachdem sie das Sanatoriumsgelände verlassen hatte, rief Judith Kriminal-Hauptkommissar Lothar Velmond und Elsterhorsts Hausarzt an und informierte beide über die eigenartigen Vorkommnisse im sogenannten Elysium.
2. Höllenqualen
Maurice Elsterhorst erwachte, weil jemand mit zarter Hand liebevoll seine Haare von der Stirn zurückstrich. Dieses Gefühl verwirrte ihn. Es war ihm fremd; erinnerte ihn allenfalls an seine Mutter, wenn er morgens zur Schule aufbrach und sie ihm, den bitteren Abschied versüßend, einen Kuss auf die Stirn gab. Doch - so bitter war dieser Abschied für ihn gar nicht, wartete doch ein paar Ecken weiter die hübsche kleine Judith mit ihren langen, dunkelblonden Zöpfen. Gleich verwandelte sich das eben noch umsorgte Söhnchen in einen Jungsiegfried, in einen Helden, bereit, Judith gegen alle Feinde zu schützen - und ihr die Hälfte seines Butterbrotes zuzustecken.
Elsterhorst blinzelte. Da war ein Fenster an einer ungewohnten Stelle. Dahinter bewegten sich hohe Bäume. Der Vorhang neben dem Fenster - mit einem völlig fremden Muster, in völlig fremden Farben. Das Bett ungewohnt, direkt neben einer Wand? Wo war er?
„Guten Tag, Herr Elsterhorst! Wachen wir jetzt allmählich auf?“ Welch’ angenehme Stimme? Wer wachte da mit ihm zusammen auf?
„Ich bin Schwester Angela! Ich bin Ihnen zugeteilt! Ich werde mich in den nächsten Tagen um Ihr Wohlergehen kümmern! Aber erst müssen wir einmal gaaanz aufwachen!“
Wieder sagte die Stimme „wir“. Wir müssen aufwachen? Warum?
„Wir haben lange, lange geschlafen, Herr Elsterhorst. Wir haben Sie in einen Heilschlaf versetzen müssen, damit Sie sich beruhigen und Abstand gewinnen!“
„Wo bin ich?“ flüsterte er mit zittriger Stimme.
„In Ihrem Zimmer! Im Elysium! In Ihrem kleinen Reich, in dem Sie in den nächsten Wochen wieder zu vollen Kräften kommen werden!“
Elsterhorst versuchte sich aufzurichten. Eine kräftige Hand unterstützte ihn dabei. Dabei blickte er zum ersten Mal bewusst in das freundlich lächelnde Gesicht seiner behutsamen Helferin und wünschte ihr einen Guten Morgen.
„Lieber Herr Elsterhorst, wir haben schon Nachmittag. Wir haben sehr lange und sehr tief geschlafen, und das hat uns ganz bestimmt sehr gut getan.“
Das Klinik-Wir! Ja, natürlich! Wir haben lange und sehr tief geschlafen - mit dieser jungen Frau? Verständlicherweise konnte er dieser erotischen Gaukelei in keiner Weise folgen.
Nun begann er, seine Umgebung schärfer wahrzunehmen: einen Schrank, einen Tisch, darüber ein fast leeres Bücherbord, eine Garderobe, an der sein Mantel hing. Alles sehr schlicht. Zwei Bilder an den Wänden, Blumenstillleben, Mohnblumen. Billigstkopien.
„Jetzt müssen wir aber erst einmal was trinken!“ Schwester Angela reichte ihm eine gelbe Schnabeltasse. Das auch noch! Gelbes Plastik! Er hätte sich fast an dem süßlichen Orangendrink verschluckt; denn er hatte Wasser erwartet, kühles, klares Wasser. Aber nicht so ein Zeug!
„Das ist Astronautennahrung, Herr Elsterhorst, damit Sie schnell wieder in die normale Umlaufbahn gelangen! Und wir müssen gleich noch mal eine solche Tasse voll langsam austrinken. Heute abend gibt es dann was Leckeres zu essen!“
Elsterhorst blickte sich weiter um und erspähte voller Entsetzen seinen aufgeklappten Koffer.
„Ich habe mir erlaubt, Ihre Sachen, Ihre Wäsche, alles eben in den Schrank einzuräumen. Auch ins Bad. Wenn Sie gleich wieder ein bisschen besser auf den Beinen sind, sollten wir duschen, möglichst kalt, damit der Kreislauf auf Touren kommt!“
„Der Koffer war verschlossen ....“
„Ja, aber man weiß natürlich, wo die Schlüssel sein können. Ich hatte ja nichts zu tun als nur zu warten, bis Sie aufwachen. Und mir können Sie grenzenlos vertrauen! Mir schon!“
Diese beiden nachgeschobenen Wörter irritierten den allmählich auch wieder erwachenden Hauptkommissar.
„Das klingt, als könne man hier nicht allen vertrauen?“
„Davon haben Sie ja schon eine kleine Kostprobe bekommen - oder? Vielleicht ist es Ihnen in Ihrem Zustand nicht aufgefallen. Es gibt hier solche und solche. Dürfte ich Ihnen sicher gar nicht sagen; aber ich tue es halt. Und damit Sie erkennen, dass ich es ehrlich mit Ihnen meine, leihe ich Ihnen gerade mal schnell mein Handy. Ihres hat man Ihnen entgegen der Weisung von Ihrer Frau abgenommen. Vielleicht wollen Sie gerade mal Ihre Frau anrufen? Ganz schnell und ganz kurz, ehe wir erwischt werden. Dann würde ich nämlich gefeuert!“
Leider hatte Judith ihr Mobiltelefon nicht eingeschaltet. Den Kollegen Velmond wollte er nicht anrufen. Vermutlich wäre die Möbius ans Telefon gegangen. Dann hätte er ihr zu vieles erklären müssen. Und überhaupt!
„Schade, dass es nicht geklappt hat. Und noch etwas, Herr Kommissar. Sie haben da einen Aufstellbilderrahmen mit einem Foto von diesem schwarzen Hund. Den dürfen Sie hier ganz bestimmt nicht aufstellen. Ich habe ihn unter Ihrer Unterwäsche versteckt. Tiere ziehen zuviele Energien von den Menschen ab, glaubt man hier. Menschen widmen oft ihren Tieren mehr Liebe als Menschen. Das aber wäre Sünde!“
In dem Maße, in dem in Elsterhorst alle Sinneskräfte wieder erwachten, stieg in ihm das Unbehagen. Was erlaubt man sich eigentlich hier mit ihm? Und wenn Schwester Angela noch so sympathisch säuselt und ihre Komplizenschaft unter Beweis stellen will, allein die Tatsache, dass sie eigenmächtig seine Unterwäsche ausgepackt und in den Schrank gelegt hat, seine Boxershorts, seine nicht mehr ganz neuen T-Shirts, seine Socken - und erst recht seinen sogenannten Kulturbeutel, die Waschsachen, seine Cremes, Rasierwasser, Hühneraugenpflaster - dass er die Kontrolle über sein ganzes Ich hier hat abgeben müssen, empörte ihn in zunehmenden Adrenalinschüben.
„Schwester Angela, Sie haben es sicher gut gemeint, aber glauben Sie nicht, dass Sie ein wenig zu weit gegangen sind und meine Intimsphäre verletzt haben?“
„Intimsphäre? Herr Kommissar Elsterhorst, das kann ich Ihnen gleich sagen: So etwas respektiert man in diesem Hause überhaupt nicht. Und was glauben Sie, was wir als Schwestern alles zu sehen und zugemutet bekommen? Die meisten Patienten oder ‚Gäste’, wie man hier heuchlerisch sagt, wollen gar zu gern, dass man ihre Intimsphäre verletzt. Hier eine kleine Rückenmassage, wobei der Rücken manchmal auch vorn ist und sehr tief reicht. Dort gekämmt und gestreichelt werden. Viele, die hier gelandet sind, hatten seit Jahren keinen Hautkontakt mehr mit liebenden Menschen, keinen Kuss, keine liebevoll dargebotene Hand. Von Zärtlichkeiten gar nicht zu reden!“
Elsterhorst