Robert Louis Stevenson

Robert Louis Stevenson - Gesammelte Werke


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Stadt Rotterdam meiner Börse und all meines Hab und Gutes beraubt wurde. Ich erzähle Euch jetzt davon, weil ich glaube, daß das Schlimmste bereits vorüber ist; immerhin liegt noch ein ziemlicher Marsch vor uns, bis wir dorthin gelangen, wo sich mein Geld befindet; und wenn Ihr mir nicht ein Stück Brot kaufen wollt, muß ich wohl fasten.« Sie sah mich mit großen Augen an. Beim Licht des neuen Tages erkannte ich, daß sie ganz grau und bleich vor Müdigkeit war, und das Herz tat mir um ihretwillen weh. Sie brach indes in Lachen aus.

      »Du meine Qual! So sind wir beide Bettler? Ihr auch? Ach, ich habe mir das gewünscht! Und ich freue mich, daß ich für Euch das Frühstück kaufen kann. Das wäre erst hübsch, wenn ich, um Euch eine Mahlzeit zu verschaffen, tanzen müßte! Ich glaube, sie kennen unsere Art des Tanzes hier nicht und würden vielleicht aus Neugier für den Anblick bezahlen.«

      Ich hätte sie um dieses Wortes willen küssen mögen, nicht als Liebhaber, nur in der Glut meiner Bewunderung. Einem Mann wird stets warm ums Herz, wenn er eine tapfere Frau sieht.

      Wir kauften von einer Bäuerin, die frisch in die Stadt gekommen war, einen Trunk Milch und in einem Bäckerladen ein Stück ausgezeichneten, heißen, süß duftenden Brotes, das wir unterwegs verzehrten. Der Weg von Delft nach dem Haag besteht aus einer fünf Meilen langen Allee schattiger Bäume, auf der einen Seite von einem Kanal, auf der anderen von ausgezeichneten Viehweiden begrenzt. Hier war es wirklich angenehm. »Und jetzt, Davie,« sagte sie, »verratet mir, was Ihr mit mir anfangen wollt?« »Das müssen wir noch besprechen, je eher, desto besser. Ich kann in Leyden Geld abheben; das ist also in Ordnung. Die Frage ist nur, was sollen wir mit Euch anfangen, bis Euer Vater zurückkehrt? Gestern nacht hatte es den Anschein, als trenntet Ihr Euch nicht gern von mir.« »Es hat mehr als nur den Anschein«, sagte sie.

      »Ihr seid ein sehr junges Mädchen, und ich bin nur ein recht junger Bursch. Darin liegt eine große Schwierigkeit. Wie wollen wir es anstellen? Wollt Ihr Euch als meine Schwester ausgeben?«

      »Weshalb denn nicht? Wenn Ihr es mir erlauben wollt?« »Ich wollte wahrhaftig, Ihr wäret es!« rief ich. »Ich wäre ein ganzer Kerl, besäße ich eine solche Schwester. Aber der Haken ist, Ihr seid Catriona Drummond.«

      »Und jetzt will ich Catriona Balfour sein«, entgegnete sie. »Wer soll dahinterkommen? Die Leute hier sind uns alle fremd.« »Wenn Ihr meint, es ginge? Ich gestehe, mir macht es Sorge. Mir wäre es recht arg, wenn ich Euch falsch beriete.« »David, Ihr seid hier der einzige Freund, den ich besitze.« »Die reine Wahrheit ist, ich bin zu jung, um Euer Freund zu sein. Ich bin zu jung, Euch zu beraten, und Ihr seid zu jung, um beraten zu werden. Ich sehe nicht ein, was uns sonst übrigbleibt, und doch fühl ich mich verpflichtet, Euch zu warnen.«

      »Mir bleibt keine andere Wahl«, sagte sie. »Mein Vater, James More, hat nicht gut an mir gehandelt, es ist nicht das erstemal. Ich bin Euch gleich einem Sack Hafermehl aufgehalst worden und habe mich jetzt nur noch nach Euren Wünschen zu richten. Wollt Ihr mich – schön und gut. Wollt Ihr mich nicht,« – sie drehte sich nach mir um und legte ihre Hand auf meinen Arm – »David, ich fürchte mich.« »Trotzdem muß ich Euch warnen«, hub ich von neuem an, und dann fiel mir ein, daß ich ja der Säckelbewahrer sei, und daß es beileibe nicht anginge, den Anschein zu erwecken, als wolle ich mich lumpen lassen. »Catriona,« fuhr ich fort, »versteht mich nicht falsch: ich will Euch gegenüber nur meine Pflicht erfüllen, Mädchen! Ich befinde mich hier allein in einer fremden Stadt, um ein einsamer Student zu werden; und jetzt hat es sich so gefügt, daß Ihr vielleicht ein Weilchen bei mir wohnen werdet, wie eine Schwester. Ihr versteht doch wenigstens das eine, Liebe, daß ich Euch sehr, sehr gerne bei mir haben möchte?« »Nun, hier bin ich ja«, entgegnete sie. »Das wäre also in Ordnung.« Ich weiß, ich war verpflichtet, offener mit ihr zu sein. Ich weiß, dies ist ein großer Flecken auf meinem Charakter, und es war ein Glück, daß ich nicht teurer dafür bezahlen mußte. Aber ich erinnerte mich, wie stark ihr Zartgefühl schon durch das Wort »küssen« in Barbaras Brief verletzt worden war; wie sollte ich da jetzt, nun sie auf mich angewiesen war, kühner sein? Außerdem sah ich wahrhaftig keine andere Möglichkeit, für sie zu sorgen, und wahrscheinlich zogen auch meine Wünsche mich heftig in diese Richtung. Kurz hinter dem Haag wurde Catriona recht fußlahm und legte den Rest der Entfernung mit ziemlicher Mühe zurück. Zweimal mußte sie am Wegrain ausruhen, und sie tat es mit allerlei anmutigen Reden, indem sie sich vorwarf, sie mache dem Hochland und der Rasse, der sie entstamme, Schande und bedeute für mich nur einen Hemmschuh. Ihre Entschuldigung, sagte sie, sei, daß sie es nicht gewöhnt wäre, in Schuhen zu wandern. Ich wollte, sie solle Schuhe und Strümpfe ablegen und barfuß gehen. Aber sie machte mich darauf aufmerksam, daß anscheinend alle Weiber hierzulande, selbst auf den Landwegen, Schuhzeug trügen. »Ich darf meinem Bruder keine Schande machen«, sagte sie und machte dabei die heitersten Scherze, aber ihr Gesicht strafte sie Lügen.

      In der Stadt, die unser Ziel war, befindet sich ein öffentlicher Garten; die Wege sind ganz mit reinem Sand bestreut; die Bäume, teils beschnitten, teils verflochten, bilden zu Häupten ein dichtes Blätterdach, und der ganze Ort ist verschönt durch Laubengänge und Lauben. Hier ließ ich Catriona auf mich warten, während ich meinen Korrespondenten aufsuchte. Dort nahm ich einen Teil meines Kredites in Anspruch und bat ihn, mir eine anständige, ruhige Unterkunft zu empfehlen. Da mein Gepäck noch nicht angekommen war, sagte ich ihm, daß ich wahrscheinlich bei meinen Wirtsleuten seiner Bürgschaft bedürfen würde; dann setzte ich ihm auseinander, daß meine Schwester mich auf kurze Zeit begleitet hätte, um mir die Wirtschaft zu führen, und daß ich daher zwei Zimmer brauchen würde. Das Schlimme aber war: Mr. Balfour hatte sich in seinem Schreiben auf alle möglichen Einzelheiten eingelassen, ohne jedoch ein Wort von einer Schwester zu erwähnen. Ich sah, der Holländer faßte starken Argwohn, und mich über den Rand eines gewaltigen Paars Augengläser anstarrend – er war ein elendes, schwächliches Kerlchen und erinnerte mich an ein krankes Kaninchen – begann er mich eingehend auszufragen. Da ergriff mich eine förmliche Panik. Wenn er nun meine Geschichte glaubt (dachte ich), wenn er mich mit meiner Schwester in sein Haus einladet und ich sie mitbringen muß! Ein nettes Knäuel gab's da zu entwirren; ja vielleicht würde ich damit endigen, das Mädel wie mich selbst rettungslos zu blamieren. Ich begann ihm also in aller Eile meiner Schwester Charakter zu schildern. Sie sei außerordentlich schüchtern und scheue sich so sehr, fremden Menschen zu begegnen, daß ich sie in diesem Augenblick allein auf einem öffentlichen Platz hätte sitzen lassen. Soweit gediehen, tat ich, was alle in meiner Lage getan haben und verwickelte mich viel tiefer, als nötig war; ja, ich erging mich in einigen völlig überflüssigen Details über Miß Balfours schwächliche Gesundheit und ihr zurückgezogenes Leben als Kind. Da, inmitten dieser Auseinandersetzungen, wurde mir mein Benehmen plötzlich klar, und von Kopf bis zu Fuß überströmte mich eine einzige Blutwelle.

      Der alte Herr war nicht so tief ins Netz gegangen, daß er nicht den Wunsch spürte, mich sobald wie möglich loszuwerden. Vor allem war er aber Geschäftsmann, und da mein Geld gut war, mochte mein Betragen noch so viel zu wünschen übriglassen, hatte er die Gewogenheit, mir seinen Sohn als Führer und Bürgen in der Wohnungssuche mitzugeben. Dadurch war ich gezwungen, den jungen Mann Catriona vorzustellen. Das arme, hübsche Kind hatte sich durch die Ruhe gut erholt; ihr Aussehen und ihr Benehmen waren tadelfrei, sie ergriff meinen Arm und nannte mich »Bruder« mit weit größerer Leichtigkeit, als ich zu antworten vermochte. Aber ein unglücklicher Umstand zeigte sich auch hier: in der irrigen Annahme, mir zu helfen, war sie eher vertraulich als das Gegenteil meinem Holländer gegenüber. Ich konnte nicht anders, mich dünkte, Miß Balfour hatte etwas plötzlich ihre Schüchternheit überwunden. Dann gab es noch ein weiteres Bedenken: der Unterschied unserer Rede. Ich sprach den Dialekt der Flachlande und dehnte meine Worte; sie hatte eine Stimme, wie sie nur in den Hochlanden zu finden ist, unterhielt sich mit leicht englischem, aber weit reizenderem Akzent und konnte hinsichtlich der englischen Grammatik nicht gerade als ein Kirchenlicht gelten. Als Bruder und Schwester machten wir daher ein etwas ungleiches Paar. Aber der junge Holländer war ein schwerfälliger Kerl und besaß nicht einmal genügend Temperament, ihre Schönheit zu bemerken – wofür ich ihn gründlich verachtete. Kaum hatten wir ein Dach über unserem Haupte, da ließ er uns zu unserer größten Erleichterung allein.

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