Abholung
Es war halb Vier Uhr morgens, als es an ihrer Türe klopfte. Es war kein zögerliches oder schüchternes Klopfen, als ob einer der unbekannten Nachbarn etwas wollte. Auch wenn das um diese Zeit sonderbar gewesen wäre.
Nein!
Es klopfte energisch und arrogant. So als ob man dafür die zusammengeballte Faust verwendete. Und es wurde immer lauter.
Verwirrt wachte sie auf. Wer konnte das sein? Hoffentlich war ihrer Mutter nichts passiert? Das war ihr erster Gedanke. Und vor der Tür stand nun irgend so ein Hiobsbote. Gähnend warf sie sich den Morgenmantel über und schlurfte, Unheil ahnend, die wenigen Meter bis hin zur Tür.
Die Wohnung war in einem dieser neu erbauten Silohäuser - wenig Platz für viele Menschen - und bestand aus einem etwa 40 Quadratmeter großen Einzelraum mit eingebauter Kochnische und Nasszelle. Ein Fenster gab es auch noch, nebst einer zentral gesteuerten Heizung.
Das fordernde Klopfen hörte nicht auf. Es war wahrscheinlich doch nur einer der gleichfalls im Silo Wohnenden, hoffte sie. Ein Fremder hätte ja, ohne die Gegensprechanlage zu benützen, gar keinen Einlass gefunden. Sie fuhr sich noch kurz durch die Haare, öffnete dann die Tür und erschrak!
Vor ihr standen zwei Frauen und ein Mann. In der Uniform der Staatsschutzeinheit. Sie hatten ihre Revolver umgeschnallt und machten nicht den Eindruck, als hätten sie wegen eines allzu frühen Morgenkaffees an ihre Tür geklopft. Die eine Frau stellte sofort ihr Bein zwischen den Türspalt.
„Ja, bitte. Was wollen Sie?“, kam ihre Frage.
„Frau Kapp, Rita Kapp?“, fragte der Mann.
„Ja. Was wollen Sie von mir?“
„Wir müssen Sie mitnehmen!
„Mich? Warum denn?“
Wir haben unsere Gründe dafür! Beeilen Sie sich.“
„Welche Gründe? Von wem? Warum?“ war ihre Reaktion.
„Das wird man Ihnen alles erklären. Später. Kommen Sie jetzt freiwillig oder brauchen Sie Hilfe?“
Rita kapierte die versteckte Drohung. Widerstand gegen die Staatsschützer wäre sinnlos gewesen. Gegen diese geballte Macht hatte man keine Chance.
Es ist eine altbewährte Strategie aller Sicherheitskräfte, weltweit, die Abzuholenden früh am Morgen aufzusuchen. Im Halbschlaf befindlich und noch zu keinen klaren Gedanken fähig, gibt es um diese Uhrzeit die wenigsten Widerstände. Die gerade geweckten Menschen sind in erster Linie verwirrt, hilflos und erschrocken.
So fügen sich die Meisten den Anordnungen der Organe und hoffen darauf, dass sich diese Abholung spätestens am Morgen als bedauerlicher Irrtum heraus stellen wird.
Auch Rita dachte ebenso.
Rita Kapp war Anfang Dreißig, ledig, unterrichtete am örtlichen Gymnasium Geschichte und Philosophie und war sich keinerlei Verfehlung bewusst. Es konnte sich also, so überlegte sie, nur um einen Irrtum handeln. Zwar verwunderte sie es, dass man sie nicht einmal anziehen ließ; man bitte um Verständnis, aber man habe es sehr eilig - und ihr auch kein Telefonat gestattete - wie gesagt: sehr eilig.
Aber ordentliche Staatsbürger akzeptieren solche Vorgangsweisen, wenn sie von irgendeiner Obrigkeit angeordnet wurden. Es fiel ihr noch auf, dass die eine Beamtin ihre Wohnung versperrte und kommentarlos ihren Schlüssel in der Tasche verschwinden ließ.
Man stieg zu viert in den Aufzug. Drei Uniformierte und die rothaarige Rita Kapp im Nachtgewand und Morgenmantel. Es wurde kein Wort gesprochen, obwohl Rita ihre Blicke hilfesuchend umherschweifen ließ. Man ignorierte sie ganz einfach.
Vor der Haustür parkte ein weißer neutral aussehender Bus mit laufendem Motor und eingeschaltetem Standlicht. Die Fenster waren bis auf die Windschutzscheibe total verdunkelt. Man konnte weder hineinsehen und vermutlich auch nicht hinaus. Der Bus hatte auch nur zwei Türen. Türen für die Passagiere waren nicht vorhanden.
Mit einem bedauernd klingendem: „Das ist Vorschrift“ banden sie ihr nun die Hände vorne mit einem Kabelbinder zusammen und nötigten sie dann hinein zu klettern.
Im Fahrzeug saßen noch zwei andere Beamte und hinter einer Glaswand drei weitere Leute. Zwei Frauen und ein Mann. Ebenfalls mit gebundenen Händen. Auf ihr „Hallo“ erfolgte keine Antwort. Niemand reagierte darauf.
Der Mann blickte trotzig zu Boden und mahlte mit dem Unterkiefer. Er blutete leicht aus dem Ohr. Hatte er etwa sinnlosen Widerstand gegen seine Abholung geleistet?
Die eine Frau schluchzte jämmerlich und die andere starrte sie nur an, als käme sie von einem anderen Planeten.
Der Bus fuhr los. Die Organe unterhielten sich anscheinend fröhlich im vorderen Teil. Man hörte hinten nicht worüber, aber an ihren lachenden Mienen konnte man das wohl annehmen.
„Scheißsystem“, fluchte der Mann und schüttelte mit dem Kopf. „Ein richtig beschissenes Arschlochsystem!“ Dann senkte er wieder den Kopf und starrte auf den Wagenboden.
Der Bus hielt an, man öffnete die Tür und ließ die Abgeholten aussteigen. Sie waren im Gefängnis I, das hauptsächlich denjenigen vorbehalten war, die gegen irgendeine staatliche Anordnung verstoßen hatten, oder deswegen verdächtigt wurden.
Sie wurden nun von den Kabelbindern befreit und von zwei Bewaffneten in den sogenannten Erfassungsraum gebracht. Man fotografierte sie, nahm ihnen die Fingerabdrücke ab und nötigte sie auch dazu, eine Speichelprobe abzuliefern; den genetischen Fingerabdruck.
Dann legten sie ihr eine Art Fußfessel an das rechte Bein. Es sah aus, als wäre es aus Kupfer und ein blauer Led leuchtete sofort auf. Das Band hatte noch einen zweiten Led, dessen Farbe konnte sie aber nicht erkennen. Er war offline.
Alles das passierte bei völliger Lautlosigkeit. Niemand sprach ein Wort. Bloß durch Handzeichen wies man die Verdächtigen an, sich entsprechend zu bewegen.
Rita fand diese Prozeduren nicht nur als unnötig; zumindest in ihrem Fall, sondern auch als äußerst entwürdigend.
Als sie fotografiert wurde, nahm man ihr deswegen auch den Morgenmantel ab. Durch das helle Scheinwerferlicht zeichneten sich ihre Körperkonturen überdeutlich ab. So hatten sie bisher nur ihre Mutter und ihr Freund gesehen
Mit hochrotem Gesicht wickelte sie sich wieder in ihren Morgenmantel ein und folgte einer wieder schweigsamen Wärterin bis hin zu einer ihr zugewiesenen Zelle.
Es war dies einer der neu erbauten Supermax - Gefängnisse1. Die Unterbringung da ist gleichzusetzen mit nahezu vollkommener Isolation von der Außenwelt. Auch innerhalb des Zellenblocks ist die Kommunikation zwischen den Inhaftierten unterbunden.
Die Insassen werden 24 Stunden am Tag videoüberwacht. Gleichgültig, ob sie sich in ihrer Zelle, in einem Außenkäfig, oder in der Dusche befinden. Besonders entwürdigend fanden es die meisten, dass sie auch während der Toilettenbenutzung videotiert wurden.
Die Zellen sind ungefähr 3,5 × 2 m groß und mit speziellen, schalldichten Türen ausgestattet. Die Türen im gesamten Areal sind ferngesteuert.
Absolut kein Ort, wo man sich hin wünschte.
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Zelle I
Die Zelle, in die sie sie gesteckt hatten, machte mit ihren geschätzten sieben Quadratmetern einen sehr sterilen Eindruck. Alles war weiß! Ein knalliges, aggressives Weiß, dass es einem in den Augen wehtat.
Außer einem schmalen Bett, das - wie sie später erleben würde - untertags mittels Fernbedienung hochgeklappt wurde, gab es nur noch eine Toilettenschüssel im Raum.
Es gab kein Wasser und auch kein Waschbecken. Nach dem Toilettengang hielt man die Hände an eine vergitterte kleine Öffnung an der Wand. Daraus strömte reinigender Dampf,