Gunter Preuß

Julia


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      10.

      Am Montag war Julia völlig die Alte. Diesmal verschlief sie nicht, obwohl Pit sie wieder nicht abgeholt hatte. Liebscher war es, der mit der Wohnungsklingel SOS morste. Er wollte gleich hereinkommen. Julia wehrte ab: »Betreten verboten! Ich bin noch im Nachthemd. In einer Minute bin ich unten.«

      Julia beeilte sich. Ihr gefiel nicht, dass Liebscher gleich in die Wohnung stürmen wollte. Pit hatte immer von unten gerufen oder geklingelt.

      »Hat dich der Doktor wieder zusammengeflickt?«, fragte Liebscher, als Julia auf die Straße trat. »Wir können jetzt auf niemanden verzichten. Die Rosen hat vielleicht eine Art zu unterrichten. Die stellt mehr Fragen an uns als wir an sie. Unsicher ist sie, sage ich dir. Na, du wirst ja sehen.«

      Sie gingen die Elsbethstraße hinunter. Ungefähr fünfzig Meter vor ihnen liefen Pit und Olaf.

      »Hat Pit nun seine Meinung geändert?«, fragte Julia. Sie sah, dass Pit Olaf am Arm vorwärts zog. Der Kleine wollte bestimmt wieder nicht in die Schule. Zu so einem Bruder brauchte man Nerven.

      Liebscher winkte ab. »Auf den können wir verzichten. Für mich ist der ein Verräter! Mit Verrätern verhandle ich nicht!«

      Julia sagte nichts dazu. Sie fand Pits Handlungsweise auch nicht in Ordnung. Aber er gehörte zur Klasse. Man konnte ihn nicht einfach ausschließen. Pit war doch sonst ein prima Junge.

      »Der ist ein Fanatiker«, sagte Liebscher. »Der hätte sich glatt den Arm brechen lassen. Der wird sowieso sitzenbleiben. Gehalten hat ihn doch nur Herr Rohnke.«

      Julia sah Liebscher an. Er war tadellos gekämmt und gekleidet. Er hatte braune Jeans und eine Wildlederjacke mit Pelzkragen an.

      Julia fand, dass er sich übers Wochenende erholt hatte. Nur in seinen Augen entdeckte sie Unruhe. Angst vielleicht? Hatte sie die nicht auch in ihren Augen gefunden? Angst? Wovor?

      Julia fragte: »Du, Werner - was machen wir, wenn Herr Rohnke nicht wieder zu uns kommt?«

      Liebscher schlug den Pelzkragen hoch. Dann sagte er, und es klang wie ein Schwur: »Er wird wiederkommen!«

      Nach einer Weile sagte Julia: »Sie ... die Neue ... Frau Rosen war bei mir ... «

      Liebscher fasste Julia am Arm. Ihr war es, als atmete er auf. »Mensch, Julia, und ich dachte schon, du wolltest es mir nicht sagen. Was wollte sie denn?«

      Julia gefiel Liebschers Misstrauen nicht. Liebscher merkte es ihr an. Er sagte: »Ich habe sie zufällig in euer Haus gehen sehen. Da dachte ich mir, sie wird dich bequasseln wollen.«

      Sie erreichten das Schulgebäude. Von den Kastanien fielen die letzten Blätter. Die Jungen und Mädchen der untersten Klassen stießen und jagten sich.

      Als Julia und Liebscher das Klassenzimmer betraten, war Frau Rosen schon da. Herr Rohnke war immer erst mit dem Klingelzeichen gekommen.

      Julia setzte sich. Sie wehrte Ellen ab, die ihr um den Hals fallen wollte. »Lass das Theater«, sagte Julia barsch.

      Ellen schmollte. »Juli, ich freue mich doch nur, dass du wieder da bist.« Und gleich wurde ihre Stimme wieder eifriger. »Wir haben mit ihr schon die ersten Stunden hinter uns. Juli, die ist mit Herrn Rohnke überhaupt nicht zu vergleichen. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht ... «

      »Schon gut«, unterbrach Julia. Sie beobachtete die Rosen, die in ihren Büchern blätterte, Aufgaben an die Tafel schrieb und auf etwas zu warten schien. Julia hatte das Gefühl, als warte sie darauf, von jemand aus der Klasse angesprochen zu werden. Warum war sie so zeitig ins Klassenzimmer gekommen? Herr Rohnke hatte immer lachend gesagt: »Ich werde doch nicht eine Sekunde zu früh in die Höhle des Löwen gehen.«

      Die anderen saßen herum, unterhielten sich leise oder kritzelten etwas auf Papier. Sie wichen den suchenden Blicken der Rosen aus. Eine knisternde Spannung herrschte in der Klasse.

      Frau Rosen hatte Julias Kommen bemerkt. Sie legte ihre Bücher zur Seite und gab ihr die Hand. »Guten Morgen, Julia. Geht es dir wieder besser?«

      »Ja«, antwortete Julia kurz. Ihr war es unangenehm, dass die Neue zu ihr kam und ihr wie einer Verbündeten die Hand gab.

      Die anderen beobachteten sie aus den Augenwinkeln.

      Julia war froh, dass es zum Unterricht klingelte. Aber die Rosen blieb noch bei ihr stehen. Sie fragte laut, dass es alle hören konnten: »Wie war der Zirkusbesuch? Hast du nach Karten für uns alle gefragt?«

      Julia war wütend. Warum musste sie jetzt von diesem blöden Zirkus anfangen. Die anderen würden tatsächlich noch denken, dass sie mit der Rosen gemeinsame Sache machte. Sie sah wieder das Misstrauen in Liebschers Augen aufglimmen.

      Sie sagte schroff: »Nein! Hab' ich vergessen!«

      Frau Rosen sah Julia an, dass sie log. Sie war unsicher. Wie sollte sie nur diesem Mädchen, wie dieser Klasse begegnen? Sie musste den richtigen Ton finden, der dann die richtigen Worte bringen würde. Sie hatte Angst zu versagen.

      Sie ging zu ihrem Tisch zurück, ordnete die Blumen in der Vase, die sie mitgebracht hatte. Der Unterricht begann. Auf dem Stundenplan stand Geschichte, das Lieblingsfach der 8b.

      Julia ärgerte sich über sich selbst. Sie hatte tatsächlich nach Zirkuskarten gefragt. Sogar bestellt hatte sie dreiunddreißig Karten. Aber warum musste die Rosen sie auch so auffällig vor allen danach fragen?

      In Julia meldete sich wieder ihre zweite Stimme zu Wort: »Warum sollte sie dich eigentlich nicht fragen?«

      »Bist du aber aufdringlich! Scher dich dorthin, wo der Pfeffer wächst!«

      »Sind Zirkuskarten etwa ein Geheimnis?«

      »Nein, aber ... «

      »Was aber?«

      »Ach nichts. Lass mich zufrieden! Meine Ruhe will ich haben!«

      Julia hörte Ellen sagen: »Ich tue dir doch nichts, Juli. Wieso lass ich dich nicht zufrieden?«

      »Entschuldige«, sagte Julia. Sie versuchte, sich auf den Unterricht zu konzentrieren.

      Frau Rosen sprach über das Leben von Karl Marx und Friedrich Engels. Sie begann zögernd. Aber was sie sagte, war für Julia neu und ließ sie zuhören. Herr Rohnke hatte auch oft über Marx, Engels und Lenin gesprochen. Aber bei ihm waren diese drei immer wie Götter erschienen, unfehlbar, denkmalhaft, hochstehend, unerreichbar. Bei Frau Rosen begannen sie Menschen zu werden.

      Julia hatte das Gefühl, als säßen sie unter ihnen im Klassenzimmer.

      Frau Rosen hatte eine Zeichnung mitgebracht, auf der Karl Marx auf einer Brücke stand, auf das Geländer gestützt, nur etwas herausgehoben aus dem Strom der Arbeiter, die, aus der Fabrik kommend, über die Brücke liefen.

      Frau Rosen ließ das Bild herumgehen. Es dauerte lange, bis es Julia in die Hand bekam. Sie wunderte sich darüber, denn für gewöhnlich gingen solche Bilder schnell von Tisch zu Tisch. Aber dieses Bild hatte Julia noch nicht gesehen. Es war eine Grafikreproduktion. Julia erkannte bald den Zusammenhang zwischen dem Philosophen Marx und den Arbeitern. Und sie sah Karl Marx zum ersten Mal lächeln.

      Frau Rosen sagte: »Die Grafik ist von einem jungen, noch unbekannten Künstler. Wie gefällt sie euch?«

      Die Klasse schwieg. Nach einer Weile sagte Röbel: »Ich dachte, wir haben Geschichte. Aber da ist wahrscheinlich Zeichnen vorverlegt worden.«

      Einige lachten beifällig. Julia sah Frau Rosen die Enttäuschung an. Es war, als ob sie noch kleiner, noch mädchenhafter wurde, als sie sich setzte.

      Warum gibt sie so schnell auf, dachte Julia. Es war doch nicht schlecht, was sie in dieser Stunde gemacht hatte.

      Sie wollte sich gerade melden, sagen, dass sie die Zeichnung ganz gut fände. Aber da war Liebscher aufgestanden. Er hielt den Kopf etwas gesenkt. Als er zu sprechen begann und aufblickte, sah sie, dass er aufgeregt war.