LUNATA
Nesthäkchens Jüngste
Nesthäkchen Band 8
© 1924 Else Ury
© Lunata Berlin 2020
Inhalt
1. Kapitel
Nein, diese Kinder!
Es war ein echter, rechter Apriltag. Regen und Sonnenschein in launischem Wechsel. Manchmal lachte und weinte der Himmel sogar zu gleicher Zeit, wie ein Kind, das noch keinen Übergang von dem einen Gefühl zum entgegengesetzten kennt.
Und dabei sollte ein Mensch Wäsche trocknen. Hatte man die blütenweißen Stücke eben auf die Leine gebracht und freute sich, wie der Frühlingswind sie durchblies und lustig flattern machte, wie die liebe Sonne sich alle erdenkliche Mühe gab, der emsigen Hausfrau zur Hand zu gehen und ihre Pflicht als bester Trockenapparat zu erfüllen, haste nicht gesehen, da war schon wieder solch ein grauschwarzes Wolkenungetüm herangejagt und spie seinen verderblichen Strahl auf die weiße Herrlichkeit. Nein, man konnte es Frau Annemarie wirklich nicht verdenken, wenn auch sie heute nicht ganz gleichmäßig blieb, wenn sie das fortwährende Foppen und Narren der Aprilsonne aus dem Häuschen brachte.
»Trude – Trude – unsere Wäsche wird naß!« Zum soundsovielten Male eilte Frau Annemarie von ihrem Erkerplätzchen hinaus in den Hofgarten hinter dem Hause. Hinterdrein die Trude, das Stubenmädchen, die mit ihren jungen Beinen kaum ihrer Herrin zu folgen vermochte. Wie eine Zwanzigjährige lief und hantierte Frau Annemarie heute noch, trotzdem sie nun schon die doppelte Anzahl von Jahren zurückgelegt hatte. War es denn zu glauben? Die Annemarie Hartenstein, Doktor Brauns einstiges Nesthäkchen, bereits über die vierzig? Nein, das glaubte ihr kein Mensch, wenn man sie mit ihrer frischen, resoluten Art schaffen sah, wenn man ihr jugendfrisches, herzerquickendes Lachen hörte, das sie sich, allem Schicksalsunbill zum Trotz, bewahrt hatte. Und sie selbst vermochte es am wenigsten zu fassen. Fühlte sie sich doch noch so jung, noch so gänzlich unbeschwert von der Würde ihrer Jahre. Ja, manchmal hätte sie der Vronli, ihrer Ältesten, welche des Vaters ernstere Art geerbt hatte, ganz gern ein wenig von der Leichtlebigkeit ihrer Frohnatur abgegeben.
Auch der Sonne, Annemaries guter Freundin, die nun schon so manches Jahr auf das Doktornest in Lichterfelde herabblinzelte, erschien Frau Annemarie gänzlich unverändert. Das Haar noch eben so golden wie ihr Strahlengespinst, das Auge voll Glanz, leuchtend von innerer Wärme – nein, wären die Wäschestücke, die Höschen und Hemdchen der Kinder, die auf den Trockenplatz gehängt wurden, nicht von Mal zu Mal gewachsen, sie wäre es wirklich kaum gewahr geworden, daß sich Jahr um Jahr von der Zeitenspule abhaspelte. Keine Kinderhöschen mehr auf der Leine, nur noch große Wäsche, die Frau Annemaries Hand energisch vor Petrus' Gießkanne zu bewahren suchte.
»Frau Professern, die Sonne scheint schon wieder, wir kennen wieder mit's Aufhängen von vorn anfangen«, frohlockte Trude, nachdem man alles eiligst herabgerissen.
»Aber da soll doch – –!« Die mit »Frau Professern« Angeredete hielt mitten in ihrem Empörungsausruf inne und lachte plötzlich los wie – der Apriltag. »Solch eine Ruppigkeit – dalli, dalli, Trude, flink wieder alles auf die Leine! Vielleicht bleibt uns die Sonne diesmal treu. Wollen mal sehen, wer es länger aushält, wir oder der launische April.«
Selbst die Sonne konnte Frau Annemaries liebenswürdiger Art nicht widerstehen. Sie nahm vor der Hand nicht wieder Reißaus, wenn auch dräuende Wolkenungeheuer ihre schwarzen Zungen gegen sie bleckten. Gab es doch auch für sie etwas besonders Hübsches da unten zu sehen: Ein blondzöpfiges junges Ding, rosig wie der Lenz, der heuer noch auf sich warten ließ. In der Hand die ersten goldenen Osterglocken, die sich aus dem Beet herausgewagt. Nein, was war das Mädel während des Winters, wo Frau Sonne sich auf ihren Altenteil zurückgezogen hatte, in die Höhe geschossen. Ein getreues Abbild der Mutter. Wenn man es nicht wußte, daß so und so viele Jahre inzwischen verflossen waren, man hätte denken können, Doktor Brauns Nesthäkchen, die Annemarie, mit ihren blonden Hängezöpfen wieder vor sich zu sehen.
»Frühling, Frühling wird es nun bald!« – – Wie Lerchengetriller erklang es durch den noch recht wenig frühlingsmäßigen Garten.
»Ursel – Urselchen – da bist du ja, Kind.« Frau Annemarie ließ ihre Wäsche im Stich und wandte sich dem Vordergarten zu, aus dem die süße Mädchenstimme ertönte. »Na, mein Mädel, wie war's? Ist dir der Abschied von der Schule schwer gefallen? Hat's Tränen gesetzt?« Prüfend schaute die Mutter in das liebreizende, noch kindlichrunde Mädchenantlitz.
Nein, nach Tränen und Abschiedsweh sah Ursels Gesicht durchaus nicht aus.
»Tag, meine kleine Muzi. Da wären wir also glücklich raus aus der Penne! Hurra – frei! Ob ich geheult habe beim Abschied? Keine Spur! Das habe ich meiner Freundin Ruth überlassen. Selig war ich, daß wir nun endlich aus dem Stall raus sind. Und als mir Paukert noch die Gesangsprämie überreichte – eine Schubertbiographie, Mutti, mächtig nobel! – und zu mir sagte, daß ihm die Stütze des Soprans sehr fehlen würde, da hätte besagte Stütze beinahe einen Luftsprung vollführt.« Ursel holte den verabsäumten Luftsprung hier im Garten noch nach, wobei sie die Mutter um die Taille packte.
»Ursel – Mädel – du reißt mich ja um. Eine Gesangsprämie hast du erhalten? Nun, eine Anerkennung für deine wissenschaftlichen Leistungen wäre mir eigentlich lieber gewesen. Wie ist das Abschiedszeugnis ausgefallen, Kind?«
»Ungerecht – im höchsten Grade ungerecht. Habe ich in Mathematik etwa gut verdient? Noch nicht mal genügend. Und im Betragen hätte ich mir auch kein lobenswert gegeben, wo ich die werten Herrschaften so und so oft durch meine Rangenhaftigkeit mit Entsetzen erfüllt habe. Ich glaube, die freuen sich genau so, mich los zu werden, wie das umgekehrt der Fall ist. Sicher haben sie mir nur