Stefan Zweig

Montaigne


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der scheinbar Tatenlose eine unvergleichliche Tat getan. Indem er sich selbst erhielt und beschrieb, hat er den Menschen in nuce in sich erhalten, den nackten und überzeitlichen Menschen. Und während alles andere, die theologischen Traktate und die philosophischen Exkurse seines Jahrhunderts uns fremd und verjährt anmuten, ist er unser Zeitgenosse, der Mann von heute und immer, ist sein Kampf der aktuellste auf Erden geblieben. Hundertmal, von Blatt zu Blatt, wenn man Montaigne aufschlägt, hat man das Gefühl: nostra res agitur, das Gefühl, hier ist besser, als ich selbst es sagen könnte, gedacht, was die innerste Sorge meiner Seele in dieser Zeit ist. Hier ist ein Du, in dem mein Ich sich spiegelt, hier ist die Distanz aufgehoben, die Zeit von Zeiten trennt. Nicht ein Buch ist mit mir, nicht Literatur, nicht Philosophie, sondern ein Mensch, dem ich Bruder bin, ein Mensch, der mich berät, der mich tröstet, ein Mensch, den ich verstehe und der mich versteht. Nehme ich die »Essais« zur Hand, so verschwindet im halbdunklen Raum das bedruckte Papier. Jemand atmet, jemand lebt mit mir, ein Fremder ist zu mir getreten und ist kein Fremder mehr, sondern jemand, den ich mir nahe fühle wie einen Freund. Vierhundert Jahre sind verweht wie Rauch: es ist nicht der Seigneur de Montaigne, der gentilhomme de la chambre eines verschollenen Königs von Frankreich, nicht der Schloßherr aus Périgord, der zu mir spricht; er hat die weiße gefältelte Schaube abgelegt, den Spitzhut, den Degen, er hat die stolze Kette mit dem Orden des St. Michel vom Halse genommen. Es ist nicht der Bürgermeister von Bordeaux, der bei mir zu Besuch ist, und nicht der Schriftsteller. Ein Freund ist gekommen, mich zu beraten und von sich zu erzählen. Manchmal ist in seiner Stimme eine leise Trauer über die Gebrechlichkeit unseres menschlichen Wesens, die Unzulänglichkeit unseres Verstandes, die Engstirnigkeit unserer Führer, den Widersinn und die Grausamkeit unserer Zeit, jene edle Trauer, die sein Schüler Shakespeare gerade den liebsten seiner Gestalten, einem Hamlet, Brutus oder Prospero so unvergeßlich mitgegeben hat. Aber dann spüre ich wieder sein Lächeln: warum nimmst du dies alles so schwer? Warum läßt du dich anfechten und niederbeugen von dem Unsinn und der Bestialität deiner Zeit? All das rührt doch nur an deine Haut, nicht an dein inneres Ich. Das Außen kann dir nichts nehmen und kann dich nicht verstören, solange du dich nicht selber verstören läßt. »L'homme d'entendement n'a rien à perdre.« Die zeitlichen Geschehnisse sind machtlos über dich, sofern du dich weigerst, an ihnen teilzunehmen, der Wahnsinn der Zeit ist keine wirkliche Not, solange du selbst deine Klarheit behältst. Und selbst die schlimmsten deiner Erlebnisse, die scheinbaren Erniedrigungen, die Schläge des Schicksals –, du fühlst sie nur, solange du schwach vor ihnen wirst, denn wer ist es als du selbst, der ihnen Wert und Schwere, der ihnen Lust und Schmerz zuteilt? Nichts kann dein Ich erheben und erniedrigen als du selbst – selbst der schwerste Druck von außen hebt sich dem leicht auf, der innerlich fest und frei bleibt. Immer und insbesondere, wenn das einzelne Individuum in seinem seelischen Frieden und seiner Freiheit bedrängt ist, bedeutet das Wort und der weise Zuspruch Montaignes eine Wohltat, denn nichts schützt uns mehr in Zeiten der Verwirrung und Parteiung als Aufrichtigkeit und Menschlichkeit. Immer und jedesmal ist, was er vor Jahrhunderten sagte, noch gültig und wahr für jeden, der sich um seine eigene Selbständigkeit bemüht. Niemand aber haben wir dankbarer zu sein als jenen, die in einer unmenschlichen Zeit wie der unseren das Menschliche in uns bestärken, die uns mahnen, das Einzige und Unverlierbare, das wir besitzen, unser innerstes Ich, nicht preiszugeben. Denn nur jener, der selbst frei bleibt gegen alles und alle, mehrt und erhält die Freiheit auf Erden.

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