hatte, ärgerte er sich.
Marie klapperte verführerisch mit den Augendeckeln, legte bittend ihre zarten Hände um seinen Hals. Aller Widerwille in ihm verflog, wie luftige Blätter im Sommerwind.
Maries Familie war von uraltem Adel. Während des Krieges nicht verarmt, sondern beträchtlich reicher geworden. Monsieur Philipe de Valloir hatte mit Waffen gehandelt, sich nach Kriegsende auf Küchengeräte aller Art umgestellt. Die Fabrik wuchs zu enormer Größe. Er thronte auf seinen Millionen, mit Stolz und unerschütterlichem Vertrauen.
Seine Gattin, eine Comtesse aus verarmtem, französischem Adel, residierte an seiner Seite. Huldvoll nahm sie Ovationen entgegen, ließ Handküsse über ihre, mit Edelsteinen voll bestückten Hände streifen. Meist sah sie streng und huldvoll in die Runde. Ihre scharfen Blicke taxierten jeden Einzelnen ihres Bekanntenkreises nach Exterieurs. Garderobe, Schmuck, Orden, Ränge, die sie im Geschäftsleben oder der Politik bekleideten. Je mehr Titel, umso gnädiger der Empfang. Charakter und Herzensbildung waren eher dritt- oder viertrangig. Seelengröße wurde von den Dimensionen der Bankkonten überwuchert.
Marie-Louise schien in den ersten Ehejahren diese, mehr als verachtenswürdigen Talente ihrer Mutter aufs trefflichste zu unterdrücken. Doch später wetteiferten die beiden Frauen eifrig, welche die Fähigere sei. In die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten, trieb sie zu Höchstleistungen an. Ihren Mann hielt sie wie eine Beute fest, rücksichtslos, sinnlich, drakonisch.
Schein und Sein.
Die erste Nacht nach dem schrecklichen Ereignis war dank Beruhigungstabletten überstanden. Unablässiges Klingeln an der Haustür schreckte Alain aus seinen Albträumen. Ein zorniger Blick streifte den Wecker. Halbelf Uhr morgens. Hastig stürzte er die Treppe hinunter. Vor der Tür stand Francois, eine Tüte in der einen, eine Flasche Milch in der anderen Hand.
„Lust auf ein gemeinsames Frühstück?“, lächelte er beinahe entschuldigend.
Alain schlürfte missmutig ins Bad. Duft von frischen Croissants und Kaffee erfüllte wenig später den Raum. Schwarz und heiß stürzte er die Brühe hinunter. Unvermittelt begann er zu sprechen. Francois lauschte überrascht. Die Stimme des Freundes klang seltsam entrückt, als spräche er mit sich selbst.
„War ich selbst schuld an meinem Dilemma, meiner Verzweiflung? Das düstere Wetter half sicher gehörig mit. Ich hatte es einfach nicht mehr ertragen neben Marie-Louise liegen zu bleiben, die sanft wie ein Engel in ihren Kissen schlummerte. Ein Teufel im Engelsgewand. Das seidige Nachthemd über ihren zarten Brüsten zusammen geschoben. Ich wollte sie küssen. Sie drehte sich im Schlaf zur Seite, wandte mir abweisend den Rücken zu. Wir hatten uns in den letzten Monaten so weit von einander entfernt, und ich liebte sie doch bedingungslos.“ Gebannt starrte er auf die leere Tasse in seiner Hand.
„Im Freien fühlte ich mich erleichtert. Hier verlachte mich keiner, lästerte niemand über meine hündische Abhängigkeit, in die ich mich stets wieder verlor, wenn ich in Maries Nähe war.
Missmutig stapfte ich durch das feuchte Gras in den Nebel hinaus. Dieses graue Osterwetter passte perfekt zu meiner morbiden Stimmung. Die Prognose für die Feiertage war vielversprechend gewesen. Das hatte uns dazu bewogen, die Festtage auch dieses Jahr bei Bekannten, in der Nähe von Paris auf Schloss Vallouchon zu verbringen. Ein herrlicher Besitz. Grauer Granitstein, riesige Erkerfenster mit bleiverglasten Puzzenscheiben, die im Sonnenlicht einen geisterhaften Zauber verstrahlten. Die gekachelte Halle über zwei Stockwerke hätte bequem eine Zirkustruppe aufnehmen können“. Ein mokantes Lächeln begleitete Alains Gestammel.
„Am faszinierendsten allerdings fand ich diesen traumhaft verwilderten Wald, der das Prunkhaus umgab. Er hatte mich schon im Vorjahr beeindruckt. Damals hätte ich bereits Bernards Bedenken ernst nehmen sollen“, stöhnte er missmutig.
„Bernard schien ehrlich schockiert. Unverholener Zweifel lag in seiner Stimme, den ich völlig ignorierte. Marie-Louise wollte ein verlängertes Wochenende fern vom Großstadttrubel verbringen, und ich, verliebt und stets bemüht ihr alle Wünsche von den Augen abzulesen, willigte ein.
„Warum sollten wir nicht da hinaus fahren“, hatte ich Bernard überrascht gefragt. Cléo, die Tochter des Hauses, war Marie-Louises Freundin. Sie hatte uns herzlich eingeladen.“
„Schon recht, reg dich nicht gleich wieder auf. Du bist in letzter Zeit so leicht reizbar, mon cher“, hatte Bernard mit einiger Besorgnis in der Stimme damals gemeint. „Sollte es dir tatsächlich gefallen, kannst du natürlich noch einen Tag anhängen. Die Firma wird nicht gleich in Konkurs gehen, wenn du einmal nicht da bist“. Alain hob kurz den Kopf. Ein versonnenes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Wir verbrachten tatsächlich ein herrliches Wochenende, das sich noch in die halbe darauf folgende Woche hinzog. Interessante Leute waren gekommen, mit denen ich wieder einmal nach Herzenslust Golfen konnte. Die Liebesnächte waren umwerfend. Marie-Louise war bezaubernd, verführerisch, wie schon lange nicht. Auch die Familie, die uns mit berauschender Gastfreundlichkeit aufgenommen hatte, erschien mir reizend und charmant. Obwohl der Hausherr stets mit brutaler Unlogik um sich warf, wie die meisten Leute, die mächtig und reich genug sind, stets das zu bekommen, was sie wollen.“
Alain war aufgestanden, schenkte sich einen großen Armagnac ein.
„Als ich am Abend unserer diesjährigen Abfahrt völlig übermüdet heimkam, saß Marie vor dem Schminktisch. Er quoll ebenso über von Tuben, Tiegeln, Dosen und Fläschchen, wie die gläsernen Wandregale, die sie akribisch mit immer neuen Schminkkreationen füllte. Die offene Lederkassette ihrer gierig gehorteten Preziosen stand griffbereit. Der seidene Bademantel lässig geschnürt, gab ihre schlanken Beine frei. Seit Stunden bereitete sie sich sichtlich auf unsere Abreise vor. Der Masseuse war ich an der Haustüre begegnet, der Friseur klingelte eben Sturm. Die beiden kamen stets ins Haus. Marie hasste es in die Salons zu gehen. Voll konzentriert klebte sie gerade lange künstlich Wimpern ans rechte Augelid, als ich ihr Heiligtum betrat.
„Schatz, lass uns den geplanten Ausflug nochmals überdenken“, startete ich einen letzten Versuch, das Bevorstehende abzublocken. Tut mir ehrlich leid, aber die Arbeit überrollt mich. Ich hätte keine ruhige Minute dort draußen.“
Überrascht drehte sich Marie um. „Das ist aber jetzt nicht dein Ernst!“ Ihre Stimme klang hysterisch schrill. Die Hände flatterten. Sie sah in diesem Moment richtig komisch aus. Am rechten Lid die langen Wimpern, das linke wirkte dagegen nackt.
„Aber ich habe doch schon verbindlich zugesagt“, kreischte sie außer sich.
Mein Versuch, ihr den Arm um die zarten Schultern zu legen, scheiterte kläglich. Sie stieß mich brüsk zur Seite.
„Du könntest vielleicht alleine vorfahren, ich komme später nach.“
Wutschnaubend lümmelte sie auf dem überfüllten Schminktisch. Ihre Augen funkelten mich vernichtend durch diverse Klappspiegel an.
„Herrgott, versteh doch. Bernard erwartet Höchstleistung von mir. Ich kann ihn nicht enttäuschen. Die Zeit drängt.“ Eindringlich und beschwörend versuchte ich sie zu überzeugen.
„Aber mich, mich kannst du enttäuschen. Das fällt dir sichtlich nicht all zu schwer.“ Grenzenlose Unzufriedenheit wandelte sich spontan in trotzigen Zorn.
Du weißt ja, Marie liebte Partys, Galaabende und offizielle Einladungen zu diversen Cocktails und Abendessen. Große Gesellschaften waren ihr Leben. Dort brillierte sie. Jeder, der ihr ein solches Fest vereitelte wurde zum Feind.
„Du bist ein richtiger Miesmacher“, brüllte sie weiter. „Womöglich hast du ja ganz Anderes vor. Du willst zu irgendeiner blöden Nutte. Du langweilst dich in meiner Gesellschaft! Gib es endlich zu. Du willst mich nur erniedrigen, bloßstellen vor all meinen Freunden. Du machst mir immer alles kaputt.“ Wie meist, drehte sie den Spieß ganz einfach um. Letztendes war immer ich der Sündenbock.
Im nächsten Augenblick konnte ich einem schweren Crèmetiegel gerade noch ausweichen. Das Geschoß traf den großen Wandspiegel hinter mir, zertrümmerte ihn in Kopfhöhe. Hätte exakt meine Schläfe getroffen,