Ella Wessel

GESICHT ist GESICHT


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Bücher gehören in meiner Familie so zum Leben, wie ein Glas Wein zu einem guten Essen. Meine Großeltern und meine Mutter waren Juden. Meine Mutter musste 1933 mit ansehen, wie die Bücher ihres Vaters verbrannt wurden. Er war Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin.“

      „Ha, ich wusste doch, dass Ihnen der Professorentitel zusteht. Entschuldigung, ich wollte Sie nicht unterbrechen.“ Ein joviales Lächeln huscht über sein Gesicht.

      „Zahlreiche jüdische Studenten verließen seinerzeit den Campus rechtzeitig und emigrierten nach Palästina oder in die USA. Mein Großvater blieb und wurde später deportiert und ermordet. Mit ihm viele andere jüdische Verwandte. Wissen Sie eigentlich, dass Göbels bei einem jüdischen Professor seine Doktorarbeit in Germanistik geschrieben hat?“

      „Nein, das weiß ich nicht, das ist ja makaber. Ich bin Gott sei Dank ein Nachkriegskind und kenne die furchtbaren Geschehnisse des zweiten Weltkrieges nur aus Geschichtsbüchern und Erzählungen von Zeitzeugen wie Ihnen. Ich habe mich nie wirklich damit befasst. Sie sagten, Ihre Großeltern und Ihre Mutter waren Juden, was ist mit Ihrem Vater und Ihnen? Erzählen Sie gerne weiter.“

      „Meine Mutter hatte bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin einen der französischen Athleten kennen und lieben gelernt. Die beiden haben zwei Jahre später geheiratet und ich bin Anfang 1939 kurz vor Ausbruch des Krieges auf die Welt gekommen. Der deutsche Standesbeamte hat bei dem französischen Nachnamen Bergér den Accent aigu auf dem zweiten e, auf dem die Betonung des Namens liegt, vergessen. Es wurde nicht sofort bemerkt und ließ sich später nicht mehr korrigieren. Und somit bin ich ein deutscher Berger mit Betonung auf dem ersten e. Der Mädchenname meiner Mutter war Goldberg. Sie ließ mich katholisch taufen, um damit ihr Kind vor den Widrigkeiten des Krieges und dem Holocaust zu bewahren. Es war ihr gelungen. Vielen anderen nicht. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, er ist uns im Krieg abhandengekommen. Genau wie der Accent aigu. Aber, entschuldigen Sie, ich möchte Sie nicht langweilen mit meiner Familiengeschichte.“

      „Nein, nein, überhaupt nicht, ich finde das höchst interessant. Sie sind aber nicht wirklich Professor, oder?“ Da ist wieder das verschmitzte Lächeln in seinen Mundwinkeln.

      „Nein“, erwidert er: „ich hatte aber das Glück in der schweren Zeit nach dem Krieg in einem Internat aufzuwachsen und studieren zu dürfen. Nach meinem Pharmazie-Studium war ich zuerst bei einem großen Pharmakonzern tätig und habe später mehr als 20 Jahre lang eine eigene Apotheke geführt. Das gehört jetzt aber schon der Vergangenheit an. In meinem Alter lebt man nur noch von Erinnerungen, man erlebt wenig Neues.“

      „Na ja, so würde ich das jetzt nicht unbedingt bestätigen wollen. Ich zum Beispiel habe heute einen sehr netten, sympathischen Menschen kennengelernt und dazu einiges erfahren, das ich bisher noch nicht wusste.“

      Sein bequemer Sessel, den Professor Maus mir überlassen hat und dazu der Rotwein, haben mich schläfrig gemacht.

      „Es ist jetzt auch schon spät geworden und ich möchte die überaus nette Unterhaltung für heute beenden. Aber eines müssen Sie mir noch verraten. Wer kümmert sich um Ihre so sorgfältig gebügelten Hemden?“

      „Ich selbst, das Waschen übernimmt ja die Maschine und ich bügele für mein Leben gern, das entspannt, wenn man dabei Musik hört.“

      „Das ist ja phänomenal. Ein Mann der gerne bügelt und noch dazu so spitzenmäßig. Sie werden mir immer sympathischer. Waren Sie nie verheiratet?“

      „Doch, sehr gut und sehr lange. Es war der Wunsch meiner Frau, die lange gelitten hat, nach ihrem Tod hier an der Ostsee eine Seebestattung zu erhalten, und mich in dieser Residenz versorgt zu wissen.“

      „Lange gelitten…? Sie als ehemaliger Apotheker hätten das doch verhindern können.“

      „Wir reden ein anderes Mal weiter, ich bin jetzt auch müde.“

      „Gute Nacht Herr Professor Maus.“

      Kapitel 3 - Dezember 2018

      Es ist Ende November, die Adventszeit beginnt und leuchtende Tannenbäume stehen plötzlich überall in den Straßen und säumen die Uferwege der Trave. Ich liebe diese Jahreszeit in der es sich so schön träumen lässt. Viele Bewohner des Hauses haben den November nicht überlebt, der Krankenwagen kam fast täglich mit der Fähre zu uns herüber und fuhr ohne Fracht an Bord wieder weg. Das übernahm dann diskret ein anderer Wagen. Es ist der einzige Nachteil, wenn man in einer Seniorenresidenz wohnt. Man wird sehr oft mit dem Tod konfrontiert, aber die Vorteile überwiegen bei Weitem. Man hat seine eigene Wohnung, kann tun und lassen, was man möchte, bekommt einmal am Tag eine warme Mahlzeit und es wird sich gekümmert wenn man Hilfe braucht. Vor zwei Tagen hatte ich mal wieder meinen kleinen grünen smarten Flitzer aus der Garage geholt und war mit einer anderen alten Tante - so nennt man uns hier weitläufig im Ort, was ja auch nichts Schlimmes ist, wenn man es mit Humor nimmt – in meine alte Heimat nach Hamburg zum Stadtbummel und Kaffee trinken gefahren. Zweimal im Jahr, im Frühjahr und Winter, brauche ich das. Frau Kaiser wollte unbedingt mitfahren, als sie hörte was ich vorhatte. Sie trifft sich einmal in der Woche mit einigen anderen Damen nachmittags im Restaurant zum Bridge. Alle sind immer fein herausgeputzt, mit Perlenketten oder schicken Halstüchern zu weißen Blusen, viel Goldschmuck an den Fingern und Ohren, so als ob sie im Ballsaal auf einen guten Tänzer warten würden. Sie hat mich schon einige Male zum Mitspielen animiert, aber ich kann mich noch nicht dazu durchringen.

      „Fahr nicht so schnell“, sagt Frau Kaiser auf dem Beifahrersitz meines Wagens, als wir auf der Autobahn sind.„Ich fahre nicht schnell, das kann man mit einem Smart gar nicht. Zumindest nicht mit diesem, der hat nur eine kleine Maschine drin.“

      „Hier ist achtzig erlaubt und du fährst hundert….“ Ich verdrehe die Augen und reagierte nicht weiter auf ihr Geschwätz. Das Auto habe ich mir kurz vor meinem Umzug gekauft, damit ich im Alter noch mobil bleibe, falls irgendwann meine Beine nicht mehr so wollen wie mein Gehirn es verlangt. Ich hoffe inständig, dass es in dieser Reihenfolge passiert und nicht andersherum. Von früher bin ich andere Kaliber gewohnt. Große Luxusschlitten, in denen mein Mann die linke Spur der Autobahn grundsätzlich für sich beanspruchte. Aber das ist lange her und ein anderes Kapitel. Ich habe nicht bedacht, dass Frau Kaiser nicht mehr so flott auf den Beinen ist und mit meinem Schritt nicht mithalten kann. Zwei Kaufhäuser und ein Café sind mir bei diesem Ausflug nur gegönnt. Auf dem Rückweg, es ist wieder Stau und Umleitung wegen einer Demo in Hamburg angesagt, kommen wir zufällig an einer Patisserie vorbei die von außen, also von unserem Standort an der roten Ampel, sehr einladend aussieht. Genau davor wird gerade eine Parklücke frei. Es geht sowieso nur im Schritttempo vorwärts und so nutzen wir den Moment, um noch einmal anzuhalten. Frau Kaiser hat eine schwache Blase und hat mir schon signalisiert, dass ich auf der Autobahn an der nächsten Raststätte wohl nochmal anhalten müsse. So kommt uns dieser Stopp ganz gelegen. Die freundliche Französin bietet uns an, ein Stück von ihrer selbst gemachten Bûche de Noël - eine französische Schoko-Biskuitrolle, ein traditionelles Weihnachtsgebäck aus Frankreich – zu probieren. Dieses Teil schmeckt so hervorragend, dass ich mir gleich noch eine halbe Rolle davon einpacken lasse. Verdammt sündhaft und verdammt teuer. Damit will ich Professor Maus überraschen, der mich wieder zum Kaffee eingeladen, und ich ihm gesagt habe, dass ich nur komme werde wenn ich das Gebäck mitbringen darf.

      

       In dem Moment wo ich die Biskuitrolle auf den Tisch stelle und „voilá“ sage, was einfach so von mir dahin gesagt ist, ohne dass ich mir etwas dabei gedacht habe, steht Professor Maus wie versteinert da, hält sich mit den Händen an der Tischkante fest und sagt leise mit Tränen in den Augen: „ich erlebe gerade ein Déjà Vue. Je ne sais quoi dire. Sie machen mir Angst, Frau Seidel.“

       Ich verstehe nicht sofort was er meint. Er denkt, irgendetwas schon mal erlebt zu haben, aber den Rest des Satzes habe ich nicht verstanden und bin sehr erstaunt darüber, dass er französisch spricht, merke jedoch, dass er etwas verwirrt ist. Ganz intuitiv sage ich: „Setzen Sie sich erst mal hin dann können wir über alles reden. Oft sind die Dinge nicht so, wie sie