Thorsten Nesch

Wir überfallen die Polizei


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gegangen sein. Kein Wunder, bei dem Personal hier.

      Daher hatte ich ihr vor ein paar Tagen schnell noch eine Postkarte geschickt. Zum Abendessen würde ich bei ihr sein. Vorher würde mich mein unbekannter Vater vom Tor abholen, und wir würden gemeinsam Mittag essen. Er hatte mich hier vor einem halben Jahr das erste Mal angerufen und sich vorgestellt. Drei weitere Telefonate folgten.

      Ich würde mich frisch machen für meinen Abend mit Clarissa, und mit einer Flasche Wein, oder besser zwei oder drei, bei ihr auftauchen, und noch mehr Kondomen.

      —Was grinst du?, riss mich Ömmes aus meinem Tagtraum.

      —Nix.

      —Gefällt es dir hier besser, als du dachtest?

      —Nein.

      —Hier, der Papierkram, Quittungen, unterschreiben, da, da und da. Mach hin, ich hab gleich meine kleine Pause.

      +

      Ich kannte nur Menschen mit großen Pausen. Einer einzigen großen Pause. Meine Mutter, meine Stiefväter, meine Freunde und deren Eltern und Lebensabschnittspartner. Und alles, was ich von diesem gewissen Anton Vielhaber gehört hatte, klang nicht anders.

      In ein paar Minuten würde ich ihn kennenlernen, zum ersten Mal persönlich, nach all den Telefonaten, gleich würde er mich abholen. Ehrensache, hatte er gesagt. Ein großer Moment.

      Ich würde zum ersten Mal in meinem Leben meinem leiblichen Vater gegenüberstehen, gleich, draußen vor dem Gefängnistor. Gut, ein bisschen spät insgesamt gesehen und zugegeben nicht der beste Platz für eine erste Vater-Sohn-Begegnung, aber besser als gar keine.

      Wie ähnlich wir uns wohl sahen? Konnte ich mir anhand seines Aussehens meine Zukunft vorstellen? Wie würden wir uns verstehen? Am Telefon klappte das ganz gut. Werden wir den ganzen Tag erzählen? Worüber? Ich hatte Zeit bis zum Abendessen mit Clarissa.

      Das waren die Fragen, die in meinem Kopf während der letzten Wochen herumgeisterten, und auch jetzt, als ich durch die endlosen Gänge aus dem Knast geleitet wurde, fragte ich mich das alles, ohne eine Antwort erwarten zu können. Bis sich das hohe Stahltor hinter mir schloss und das Echo verhallte.

      Außer mir wurde heute niemand entlassen.

      Vor mir lag der verlassene Parkplatz, nirgends ein Auto, nur ein leerer Bus der KVB zehn Meter weiter, der Knast war die Endstation in vielerlei Hinsicht.

      Es war der heißeste Tag in Köln, seit einer aus Langeweile angefangen hatte, die Temperaturen zu notieren. Kaum draußen drängten sich Schweißperlen auf meine Stirn, juckte der Stoff meines steifgewaschenen T-Shirts auf der Haut. Es kursierten die wildesten Gerüchte, was die hier außer Waschpulver der Gefängniswäsche beimischten.

      Ich ließ meinen Seesack von der Schulter gleiten und setzte mich auf ihn.

      Die Tür des Busses öffnete sich zischend.

      —Was ist?, rief der schwarze Busfahrer so laut, dass er den Diesel übertönte. Auf dem Schoß lag eine Tageszeitung. Welche, konnte ich nicht erkennen.

      —Was soll sein?, rief ich zurück.

      —Einsteigen?

      —Ich werde abgeholt.

      Er fasste sich mit beiden Händen an die Wangen, unter den hochgekrempelten Ärmeln seines Hemdes spannten sich die Muskeln, —Oooh! Wieder ein V.I.P.-Knasti! Irgendwo den großen Schatz vergraben?

      Was wollte der denn?

      Er tippte auf die Zeitung, —Oder war der Millionenraub dein Plan, bist du der große Mastermind?

      Er spielte auf dem gestrigen Rekordraub an, bei dem die größte Geldsumme in der Geschichte Europas gestohlen wurde. Die Nachricht hatte sich natürlich wie ein Lauffeuer im Kahn rumgesprochen. Über nichts anderes fantasierten die ganzen Bekloppten hinter ihren Türen. Ich fantasierte über meinen Abend mit Clarissa.

      —Maul, raunte ich.

      Er lachte gekünstelt, —Vergiss es, bis in einer Stunde!

      Ich zeigte ihm den Finger.

      Er winkte ab und schloss die Tür wieder.

      Was wusste der schon? Gleich würde mein Vater um die Ecke fahren. Wahrscheinlich mit etwas Gesetzterem: einem Daimler oder Cadillac.

      +

      Das dachte ich zumindest.

      Aber dem war nicht so.

      Was ich nicht wusste: Er hatte sich bereits in Maria verguckt, der Kellnerin jener schmuddeligen Kneipe in der Nähe des Bahnhofs. Während ich in der Sonne brütete, turtelte er über einem kalten Frühstücksbier mit ihr.

      Ganz groß.

      Hätte ich ihn besser gekannt, ja, hätte ich ihn überhaupt gekannt, wäre ich netter zu dem Busfahrer gewesen.

      Mein Vater war sehr früh, noch vor Sonnenaufgang, mit dem Zug angekommen. Er hatte tatsächlich vorgehabt, mich abzuholen, das musste ich ihm lassen. Doch anstatt in eine Selbstbedienungsbäckerei zu gehen, schlenderte Anton in dieses Bierloch. Beim zweiten Kölsch bekam er seine Zähne auseinander.

      —Stört dich das nicht?, waren seine ersten Worte an Maria, mit der er alleine in der Kneipe war, den schnarchenden Alten in der Ecke mal nicht mitgerechnet.

      —Was?, fragte sie genervt, und goss den letzten Rest Whisky aus einer Flasche Cutty Sark in ihr Glas. Dabei fiel ihre mediterrane Haarmähne nach vorn. Sie warf sie auf die andere Seite, indem sie ihren Kopf schief legte und in dieser Haltung verharrte, als würde sie einen Vampir zum Biss einladen.

      Der makellose Hals einer von der Kneipenarbeit durchtrainierten Frau mit einem kleinen Bauchansatz, den andere nicht einmal wahrnehmen würden, erregte die Aufmerksamkeit meines Vaters.

      Anton zeigte mit seinem Glas zur Eingangstür, —Na, das helle Licht da, der neue Tag, die damit verbundene Hoffnung.

      Sie lachte kurz auf, —Mach dir hier um Hoffnung keine Sorge.

      —Ach, wieso?

      —Die traut sich hier nicht rein. Glaub mir, ich arbeite seit fast zehn Jahren ...

      Genau in dem Moment wurde die Kneipentür brutal aufgestoßen. Hart schlug sie gegen die Wand, Putz rieselte herunter. Im Rahmen stand nicht die Hoffnung, sondern ein Typ in meinem Alter mit Militärhose, barfuß, mit nacktem Oberkörper, übersät mit zahlreichen Piercings. Er griff sich den erstbesten Stapel Bierdeckel von dem Tisch neben dem Eingang und feuerte sie, ein Maschinengewehrgeräusch imitierend, auf die drei Anwesenden.

      Das war genau das, was Maria nach einer langen Nachtschicht brauchte.

      —Raus hier, Junkie!, rief sie und warf die leere Flasche nach ihm.

      Die Cutty Sark verfehlte ihr Ziel und traf den Türrahmen. Von dort polterte sie zu Boden, ohne zu zerbrechen. Der Wahnsinnige flüchtete aus dem Laden.

      Die leere Flasche rollte an den Füßen von Anton und seinem Barhocker vorbei.

      In Filmen zersplitterten die Flaschen immer. Wenn dem so gewesen wäre oder der Boden der Kneipe nicht so schief, der ganze Tag wäre anders verlaufen. Die Möglichkeiten, die einem das Leben bietet, schillern am hellsten in der Vergangenheit.

      So meinte mein Mustervater, sich über die Jugend auslassen zu müssen, —Siehste! Das ist die Jugend, die Jugend, die Jugend.

      —Was ist mit der Jugend?, fragte Maria.

      —Verrückt.

      —Das waren wir auch mal.

      —So verrückt?

      Sie zuckte mit den Schultern.

      —Die Frage ist doch: Warum?, fragte er.

      Und sie sagte, —Drogen. Das war ein Junkie.

      —Das geht doch viel früher los. Warum nimmt er denn Drogen?

      —Um