vom Handelsamt noch nicht den Offizier macht, bei weitem nicht. Die Schiffer aber, die ich mit Fragen bestürmte, wußten es sehr wohl. Heute wundere ich mich nicht mehr darüber und mache ihnen auch keinen Vorwurf daraus. Aber diese ›Suche nach einem Schiff‹ ist für einen Jungmann doch recht hart ...«
Er erzählte dann weiter, wie müde er war und wie entmutigt durch diese Enttäuschung, die so rasch auf den schönsten Tag seines Lebens gefolgt war. Er erzählte uns, wie er durch alle Reedereien der Stadt die Runde machte, regelmäßig von irgendeinem jungen Angestellten ein vorgedrucktes Bewerbungsformular bekam und es dann abends zu Hause ausfüllte. Kurz vor Mitternacht pflegte er auf die Straße zu laufen, um es in den nächsten Briefkasten zu werfen. Und damit hatte es dann sein Bewenden. Mit seinen eigenen Worten: er hätte sie ebensogut sauber adressiert und frankiert in den nächsten Rinnstein werfen können.
Dann traf er eines Tages, als er wieder seinen Leidensweg zu den Docks machte, vor dem Fenchurch Street-Bahnhof einen Freund und ehemaligen Schiffskameraden, der um ein paar Jahre älter war. Er winselte um Mitleid, aber sein Freund hatte eben »ein Schiff bekommen«, am selben Morgen, und jagte nun heim, in dem Zustand äußeren Jubels und innerer Unrast, jedem Seemann geläufig, der nach langer Wartezeit plötzlich einen Posten findet. Der Freund hatte nur wenig Zeit, ihn zu bedauern. Er mußte sich beeilen. Während er davonstürzte, rief er ihm aber doch über die Schulter zurück zu: »Warum gehst du nicht zu Herrn Powell im Heuerbureau und redest mit ihm?« Unser Freund wandte ein, daß er Herrn Powell nicht besser kenne als Vater Adam. Und der andere, fast schon um die nächste Ecke, brüllte noch den Rat: »Geh durch den Privateingang des Heuerbureaus gerade zu ihm hin. Sein Tisch ist am Fenster. Geh kalt hin und sage, ich schickte dich!«
Unser neuer Bekannter sah uns nochmals an und erklärte: »Meiner Treu, ich war so verzweifelt, daß ich ruhig zum Teufel selbst hingegangen wäre, auf die bloße Andeutung hin, er hätte einen Offiziersposten zu vergeben.« An diesem Punkte seiner Erzählung war es, daß er, ohne den Blick von uns zu wenden, den Fluß seiner Rede unterbrach, um seine Pfeife anzuzünden. Dabei erkundigte er sich, ob wir Powell gekannt hätten. Marlow murmelte mit leisem Lächeln, daß er sich seiner sehr gut erinnern könne.
Dann war es still. Unser neuer Bekannter war mit seiner Pfeife übers Kreuz gekommen. Irgendeine Schwierigkeit hatte plötzlich sein Vertrauen in sie zerstört und seiner Vorfreude auf genießerische Hingabe ein Ende gemacht. Um die Kugel im Rollen zu halten, fragte ich Marlow, ob dieser Powell irgendwie bemerkenswert wäre.
»Nicht gerade das«, gab Marlow mit seiner gewohnten Nachlässigkeit zurück. »Im allgemeinen ist es recht schwierig, bemerkt zu werden. Die Leute beachten einen nie genügend, weißt du. Ich kann mich nur deswegen so gut an Powell erinnern, weil er mir als Heuerbas im Hafen von London öfter als einmal während meiner Pilgerfahrt zur See auf weite Fahrt hinausgeholfen hat. Er erinnerte an Sokrates. Ich meine, im wahren Sinne: im Gesicht. Ein philosophischer Geist ist ja nur ein Zufall. Er glich aufs Haar der bekannten Büste des unsterblichen Weisen, wenn du dir diese Büste mit einem weit aus der Stirne geschobenen Zylinderhut vorstellst und mit einem schwarzen Rock über den Schultern. Da ich ihn nie anders gesehen habe, als von der anderen Seite des langen, niedrigen Schalters her, hinter dem die fünf Schreibtische der fünf Heuerbase aufgestellt waren, so wird mir Herr Powell immer als Büste in Erinnerung bleiben.«
Unser neuer Bekannter hatte seine Pfeife in Ordnung gebracht und kam nun vom Kamin zu uns herüber.
»Das Bemerkenswerteste an Powell war, daß er gerade so hieß«, betonte er gewichtig, während sein Haupt in einer Rauchwolke verschwand. »Sie müssen nämlich wissen, daß ich zufällig auch Powell heiße.«
Es war offensichtlich, daß uns diese Eröffnung nicht aus gesellschaftlichen Gründen gemacht wurde. Jede Antwort darauf erübrigte sich. Wir sahen ihn unverwandt und erwartungsvoll an.
Ein oder zwei Minuten lang gab er sich stumm und schlemmerhaft dem Genusse seiner Pfeife hin. Dann nahm er den Faden seiner Geschichte wieder auf und erzählte uns, wie er sich geradeswegs nach Tower Hill begeben hatte. Er war seit dem Prüfungstage nicht mehr dort gewesen, jenem herrlichsten Tag seines Lebens, dem Tag übermütigsten Stolzes. Nun sah es sich anders an. Immer noch nicht hätte er die Königin seine Kusine nennen mögen, diesmal aber aus einem Gefühl tiefster Zerknirschung heraus. Er hielt sich nicht mehr für gut genug zu irgend jemandes Verwandtschaft. Er beneidete die blaunasigen alten Droschkenkutscher auf ihrem Stand, die Schuhputzerjungen am Rande des Bürgersteigs, die mächtigen Schutzleute, die langsam das Gitter der Toweranlagen entlang wandelten, im vollen Bewußtsein ihrer Machtfülle; er beneidete die zinnoberroten Schildwachen, die flott vor der Münze auf und ab liefen, neidete ihnen ihre Stellung im Arbeitskomplex der Welt. Er beneidete sogar die elenden, blassen Bettler mit ihren hageren Gesichtern, die aus Lasteraugen blinzelten und ihre schmierigen Schultern gegen die Torpfeiler des »Schwarzen Rosses« rieben, beneidete sie, weil sie zu weit gesunken waren, um ihre Entwürdigung noch zu empfinden. Ich muß es dem Manne unbedingt zuerkennen, daß er es uns wahrhaft nahe zu bringen wußte, wie bitter er in seiner jugendlichen Hoffnungsfreude enttäuscht worden war, als sich der Platz an der Sonne und die Daseinsberechtigung nicht gleich finden wollten.
Er stieg also die Freitreppe zu St. Catherines Dockhouse hinan, gerade die Treppe, von der aus er etwa sechs Wochen früher den Droschkenstand, die Häuser, die Schuhputzer, die Schutzleute, die Malerei, Vergoldung und die Spiegelscheiben des »Schwarzen Rosses« mit Siegermiene überblickt hatte. Damals war er im Grunde seines Herzens überrascht gewesen, daß diese alle ihm nicht mit Gesang und Weihrauch gehuldigt hatten; jetzt aber (er machte kein Geheimnis daraus) drückte er sich ganz verstohlen an den Glasfenstern des Pförtners vorbei.
»Ich hatte kein Goldstück mehr für Trinkgeld übrig«, bemerkte er grimmig. Der Mann lief ihm nach und fragte: »Was wünschen Sie?« Aber mit einem Blick nach dem ersten Stock hinauf, in dankbarer Erinnerung an Kapitän R...s Prüfungszimmer (wie leicht und einfach das alles gewesen war!), rannte er eine Stiege ins Kellergeschoß hinunter und befand sich alsbald an einem Orte voll Dämmern und Geheimnis, mit vielen Türen. Er hatte befürchtet, durch irgendein Eintrittsverbot aufgehalten zu werden. Aber er wurde nicht verfolgt.
Die Kellerräume von St. Catherines Dockhouse sind weitläufig und verwirrend angelegt. Schwache Lichtbündel fallen schräg von oben in das Gewinkel feuchter Gänge. Powell wanderte dort auf und ab wie einer der flüchtigen Urchristen in den Katakomben; und selbst der letzte Rest von Glauben an den Erfolg seines Unternehmens begann ihm nun aus den Fingerspitzen zu entschwinden. An einer dunklen Ecke, unter einem Gasarm, dessen Flamme kleingestellt war, verließ ihn sein Selbstvertrauen ganz und gar.
»Was wollen Sie? Es gehört schon was dazu, einen Wildfremden um einen Gefallen zu bitten! Ich wollte, mein Namensvetter wäre der Teufel selbst gewesen. Ich hatte ein unbestimmtes Gefühl, als wäre mir die Aufgabe dann leichter gefallen. -- Ich habe nie stark genug an den Teufel geglaubt, um ihn zu fürchten. Sehen Sie, ein Mann dagegen kann schon recht unangenehm werden. Ich sah mir die verschiedenen festgeschlossenen Türen an, mit der wachsenden Überzeugung, daß ich nie den Mut aufbringen würde, eine davon zu öffnen. Denken wirkt immer ungünstig auf die Nerven. Ich kam zu dem Entschluß, die ganze Sache aufzugeben. Aber zu guter Letzt habe ich doch nicht nachgegeben, und ich will Ihnen sagen, was mich dazu bestimmte. Es war die Erinnerung an jenen verwünschten Pförtner, der mir nachgerufen hatte. Ich war überzeugt, daß der Kerl oben an der Treppe nach mir Ausschau hielt. Wenn er mich fragte, was ich gewollt hätte, wozu er das volle Recht hatte, und ich wußte keine Antwort, so mußte ich dadurch zum mindesten lächerlich wirken, wenn nicht schlimmer. Es wurde mir sehr heiß. Ich sah keine Möglichkeit, mich aus der Affäre zu ziehen.
Ich hatte da unten jede Orientierung verloren. Von den vielen Türen verschiedener Größe hatten einige Oberlichter. Andere aber müssen einfach in Holzräume oder wohin geführt haben; denn als ich es schließlich über mich brachte, eine oder die andere zu versuchen, fand ich sie zu meiner Verwirrung versperrt. Ich stand unentschlossen und unsicher da, wie ein ertappter Dieb. Der gräßliche Keller war still wie ein Grab, und ich hörte mein Herz klopfen. Sehr ungemütlich! Ist mir vorher wie nachher nie wieder geschehen! -- Eine größere Tür zu meiner Linken, mit einem wuchtigen Messinggriff, sah aus, als ob sie vielleicht in das Heuerbureau führen könnte.