weiß ich nicht. Seine Gedichte lasen sich wie sentimentale Romane, in wirklich gute Verse gebracht. Man kam sich vor, als führe man an einem Sommertage mit einer entzückenden Dame im Ponywagen über Land. Aber in seinem häuslichen Leben wies Carleon Anthony Anklänge an das urwüchsige Temperament des Höhlenmenschen auf. Er war ein grober, unverträglicher Mensch mit einem nicht unschönen Gesicht, herrisch und anspruchsvoll gegen seine Angehörigen, aber unglaublich süß und geschmeidig vor fremden Bewunderern. Dieses grundverschiedene Benehmen muß für seine schwergeprüfte Familie besonders aufreizend gewesen sein. Nach dem Tode seiner zweiten Frau brannte sein Sohn, den er aus bloßer Laune zu Hause erzog, in üblicher Weise durch, warf sich, wie angeekelt von den Freuden der Zivilisation, sozusagen ins Meer. Die Tochter (das ältere der beiden Kinder) hielt es aus Mitleid, oder weil Frauen im allgemeinen sehr viel mehr erdulden können, noch etliche Jahre bei dem Dichter aus, bis auch sie eine Gelegenheit zur Flucht ergriff und sich Fyne, dem Fußwanderer, in die starken Arme warf. Dabei bewies sie entweder großes Glück oder großen Scharfblick. Ein Staatsbeamter, so sollte ich meinen, ist das letzte aller Wesen, das etwa die Charakterzüge des Höhlenmenschen aufweisen könnte, vor denen sie eben floh. Ihr Vater weigerte sich, sie nach ihrer Hochzeit jemals wieder zu sehen. Eine so unversöhnliche Selbstsucht ist schwer zu erklären, außer als eine perverse Art von Überfeinerung. Übrigens bestanden geraume Zeit vor seinem Tode lebhafte Zweifel an Carleon Anthonys geistiger Gesundheit.«
Das meiste von dem Vorhergehenden erfuhr ich durch Marlow, denn ich kannte Carleon Anthony nur aus seinen wenig aufregenden, aber formvollendeten Gedichten. Marlow versicherte mir, daß Fynes Ehe eine erfolgreiche, sogar glückliche gewesen sei, ohne alles spielerische Beiwerk, doch mit drei gesunden, tüchtigen, lebhaften Kindern gesegnet, lauter Mädchen. Auch sie waren alle Wandervögel. Sogar die Jüngste pflegte stundenweit fortzulaufen, wenn man sie nicht hinderte. Frau Fyne hatte gesunde Freiluftfarbe und trug Blusen mit gestärkter Brust, wie Herrenhemden, mit Stehkragen und langer Krawatte. Marlow hatte sie eines Sommers auf dem Lande kennengelernt, wo sie für die Ferien ein Häuschen zu mieten pflegten.
Hier wurden wir von Herrn Powell mit der Erklärung unterbrochen, er müsse uns verlassen. Die Ebbe sei im Anzug, kündigte er kurz an, während er vom Fenster wegtrat. Er wollte an Bord seines Kutters sein, bevor er schwoite, und natürlich an Bord schlafen. Das halte er unterwegs immer so. Dann war er mit einmal draußen, ohne großen Abschied, aber auch nicht unhöflich, und hinterließ in uns den Eindruck, als hätten wir ihn schon lange Zeit gekannt. Die ansprechende Art, in der er uns vom Beginn seiner Laufbahn erzählt, hatte dazu beigetragen. Ich dachte nicht daran, daß wir ihn wiedersehen würden. Marlow aber äußerte die Zuversicht, ihm bald, wieder zu begegnen.
»Er kreuzt den ganzen Sommer über an der Flußmündung und wird an jedem Wochenende leicht aufzufinden sein«, sagte er und läutete nach der Rechnung.
Später fragte ich Marlow, warum er diese Zufallsbekanntschaft aufrechterhalten wolle. Er mußte zugeben, daß es aus reiner Neugierde geschehe. Ich bilde mir ein, die verschiedensten Arten von Neugierde zu verstehen: Neugierde betreffs alltäglicher Vorfälle, Tagesneuigkeiten und alltäglicher Menschen. Es scheint mir die achtenswerteste Fähigkeit menschlichen Geistes. Ich wüßte tatsächlich nicht, wozu eine nicht neugierige Sinnesart gut sein sollte. Sie käme mir vor wie ein ewig verschlossenes Zimmer. In diesem besonderen Falle aber schien uns Powell ja schon völligen Einblick in seinen inneren Menschen gewährt zu haben, der Beobachtungsgabe und Gefühl für die Launen des Zufalls, aber auch eine gewisse Einfalt als Grundzug aufwies.
Marlow stimmte mir darin vollkommen bei. Aber er erklärte mir, daß sich seine Neugierde nicht ausschließlich auf Herrn Powell beschränkte. Sie reichte ziemlich viel weiter zurück, bis zu den Fynes und seiner Sommerbekanntschaft mit ihnen. Diese war durch das heutige Zusammentreffen mit einem Manne neu belebt worden, der unter Kapitän Anthony gedient hatte. Das hatte wohl auch seinen Grund, wenn keinen andern, so den einen, mich selbst mit alledem bekanntzumachen. Das geschah allmählich, in Abständen, die hier nichts zur Sache tun. Bei dieser Gelegenheit hielt ich, etwas überrascht, Marlow nur entgegen:
»Aber wenn ich mich recht erinnere, hast du gesagt, du habest Kapitän Anthony nicht gekannt?«
»Nein, ich habe ihn nie gesehen. Es sind Jahre seither vergangen, aber ich meine heute noch zu hören, wie der kleine Fyne mir mit feierlicher Grabesstimme den bevorstehenden Besuch des Bruders seiner Frau ankündigte. ›Der Sohn des Dichters, Sie wissen ja‹. Er war eben von weiter Fahrt in London eingelangt und sollte nun, sobald es seine Geschäfte erlaubten, herkommen, um einige Wochen bei seinen Verwandten zu verbringen. ›Ohne Zweifel würden wir beide uns über unseren gemeinsamen Beruf manches zu sagen haben‹, fügte der kleine Fyne mit tiefernstem Unterton hinzu, als wäre die Handelsmarine ein Geheimbund.
Du mußt verstehen, daß ich mit den Fynes nur während des Sommeraufenthaltes auf dem Lande verkehrte. Dies war das dritte Jahr. Von ihrem Leben in der Stadt wußte ich nicht mehr, als was sich durch Rückschlüsse folgern ließ. Ich spielte am Spätnachmittag Schach mit Fyne und ging manchmal früh genug hinüber, um mit der ganzen Familie an einem großen runden Tisch Tee zu trinken. Sie saßen um ihn herum, sachlich, sonnverbrannt und sehr wortkarg. Sogar die Kinder schwiegen und trugen untereinander und den Eltern gegenüber eine Art Geringschätzung zur Schau. Fyne brummte manchmal in tiefernstem Brustton irgendeine nebensächliche Bemerkung. Frau Fyne lächelte gedankenlos (sie hatte herrliche Zähne), während sie Tee, Brot und Butter austeilte. Irgendetwas, es war weder Kälte noch Teilnahmslosigkeit, nur eine merkwürdig ausgeprägte Selbstbeherrschung, ließ sie wie eine sehr verläßliche, sehr fähige und ganz ausgezeichnete Erzieherin wirken. Als wäre Fyne ein Witwer und die Kinder nicht die ihrigen, sondern nur ihrer ruhigen, bestimmten Obhut anvertraut gewesen. Man wartete darauf, daß sie Fyne mit ›Herr‹ ansprechen würde. Wenn sie ihn ›John‹ nannte, klang es wie eine unpassende Vertraulichkeit. Die Atmosphäre während der Sommerferien war, wenn ich so sagen darf, strahlend langweilig. Gesunde Gesichter, blonde Haare, helle Augen, und nie ein offenes Lachen in der ganzen Gesellschaft, außer vielleicht von einem der jungen Mädchen, die zu Gast waren.
Das Problem dieser jungen Freundinnen beschäftigte mich lebhaft. Wieso und von woher sich die Fynes alle diese hübschen Dinger holten, die sie ständig im Hause hatten, kann ich mir nicht vorstellen. Ich hatte erst den wilden Verdacht, daß sie zu Fynes Zerstreuung dienen sollten. Aber ich entdeckte bald, daß er kaum eine von der andern unterscheiden konnte, obwohl ihre Anwesenheit offenbar seiner feierlichen Zustimmung begegnete. Diese Mädchen waren in der Tat für Frau Fyne da. Sie kamen ihr mit bewundernder Ehrfurcht entgegen, schienen ein Bedürfnis nach ihrer Nähe zu haben. Sie saßen zu ihren Füßen, benahmen sich wie Schülerinnen. Es war ganz eigen. Von Fyne nahmen sie kaum Notiz. Was mich anbetrifft, so ließ man mich merken, daß ich überhaupt nicht vorhanden war.
Nach dem Tee setzten wir uns zum Schachspiel, und dabei wurde Fynes unzerstörbarer Ernst gelegentlich von etwas wie einem Schimmer leiser Genugtuung überglänzt. Die göttliche Sorglosigkeit eines Lachens war ihm nur über dem Schachbrett gegeben. Gewisse Stellungen im Spiel konnten ihm witzig erscheinen, was ihm sonst mit nichts auf Erden geschah ...«
»Er hat dich wohl gewöhnlich geschlagen«, bemerkte ich zuversichtlich.
»Ja, er hat mich meistens geschlagen«, gab Marlow rasch zu.
So pflegten also er und Fyne nach dem Tee zwei Partien zu spielen. Die Kinder spielten draußen, ernsthaft und unkindlich, wie man es von Fynes Kindern nicht anders erwarten konnte, während Frau Fyne sich mit dem jungen Mädchen, das jeweils Wochengast war, zurückzog. Sie ging immer sofort nach dem Tee hinaus, den Arm um das Mädchen geschlungen. Marlow sagte, unter all den vielen sei nur ein einziges Mädel gewesen, mit dem er jemals ein Wort gewechselt habe. Das sei ganz unerwartet gekommen, als er schon längst alle Hoffnung aufgegeben hatte, mit einem dieser verschlossenen Geschöpfe Fühlung zu gewinnen.
Eines Tages sah er eine Frau am oberen Rande eines tiefen Steinbruchs auf und ab gehen, gut dreißig Meter über der Straße, die den Hügel hinaufführte. Er rief sie warnend von unten her an, wo er zufällig vorbeiging. Sie war wirklich in ziemlicher Gefahr. Beim Klang seiner Stimme fuhr sie zurück und entschwand ihm zwischen einigen jungen Fichten, die am Rande des Abgrunds wuchsen, aus den Augen.