Wolf Schreiber

Drachen


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      Fantasy-Kultur Die Figur des Drachen erlebt in der Fantasy-Kultur eine Renaissance. J. R. R. Tolkien benutzte für seinen Smaug das traditionelle Motiv des Schatzhüters, und auch in neueren Fantasyromanen und Rollenspielen, Comics, Filmen und Musicals nehmen die Autoren Anleihen bei Märchen, Heldenepen und Volksballaden. Die traditionelle Bedeutung des Drachen wird jedoch häufig aufgebrochen. Fantasydrachen sind nicht einheitlich „gut“ oder „böse“. In einigen Rollenspielen – beispielsweise Dungeons and Dragons – nehmen Drachen beide Seiten ein. In anderen – wie Gothic II, Bethesdas Skyrim oder Guild Wars 2 – muss man die Drachen töten, um die Welt zu retten oder ein Unglück abzuwenden. In Anne McCaffreys Science-Fiction-Romanen kämpfen sie gar an der Seite von Menschen gegen gemeinsame Feinde. Drachen in der Fantasy-Kultur verfügen meistens über Eigenschaften wie Echsenähnlichkeit, Flugfähigkeit, Feueratem oder ähnliche Fähigkeiten, Größe, Intelligenz und magische Begabung. Grundsätzlich sind sie mit etwas Magischem verbunden, einer Aufgabe oder einer Geschichte, und oft besitzen sie Weisheit. Die düstere Ästhetik der Fantasybilder enthält auch ein Element der Faszination: Fantasydrachen sind gleichzeitig schrecklich und schön, edel und furchterregend. Auffallend ist, dass in den meisten Spielen der Drache zu bekämpfen oder zu finden ist, aber selten, wie in Spyro, selbst zu spielen. Als neueres Element zu den überlieferten Bedeutungsmöglichkeiten des Drachen tritt der „freundliche Drache“ auf. Dabei werden Drachen als Stilmittel genutzt, um den guten Kern im Bösen oder äußerlich Gewaltigen darzustellen; Beispiele hierfür sind etwa Eragon, Dragonheart oder Drachenzähmen leicht gemacht.

      Kinderliteratur und Zeichentrickserien Endgültig in sein Gegenteil verkehrt wird das Drachensymbol in modernen Kinderbüchern: Hier ist der Drache ein niedliches, freundliches und zahmes Wesen. Den Anfang machte bereits der britische Schriftsteller Kenneth Grahame mit seinem Werk Der Drache, der nicht kämpfen wollte von 1898, einem Antikriegsbuch, das alte Feindbilder aufbrechen und der positiven Einstellung zu Krieg und Gewalt etwas entgegensetzen wollte. In deutschsprachiger Kinderliteratur wurde die Figur erst nach dem Zweiten Weltkrieg populär. Einer der Vorreiter der Drachenwelle war Michael Ende: In seiner Jim-Knopf-Reihe von 1960 bis 1962 tritt der hilfsbereite Halbdrache Nepomuk noch neben stinkenden, lauten „echten“ Drachen auf.

      Ab den 1970ern erschienen zahllose Drachenbücher und Zeichentrickfilme. Surrealistisch wirken die anfangs degenerierten Wiener Drachen Martin und Georg in Helmut Zenkers Kinderromanen vom Drachen Martin. Bekannt sind auch Max Kruses Halbdinosaurier Urmel aus dem Eis, Peter Maffays grüner Tabaluga, die Drachen des Österreichers Franz Sales Sklenitzka oder der kleine Grisu, der eigentlich Feuerwehrmann werden will und doch zuweilen ungewollt seine Umgebung in Brand steckt. „Die kleinen Lerndrachen“ sind die Namensgeber einer Reihe von Lernbüchern aus dem Ernst Klett Verlag. Weite Verbreitung finden auch die Geschichten aus der Reihe „Der kleine Drache Kokosnuss“ von Ingo Siegner. Die Fabelwesen in den Kinderbüchern haben nun gar keine negativen Eigenschaften mehr; sie sind durch und durch lieb und tun keiner Fliege etwas zuleide, außer aus Versehen. An der Entschärfung der alten Schreckbilder wird durchaus auch Kritik geübt. Das alte Sinnbild des Teufels würde so seiner Funktion beraubt, bei der Bewältigung des Bösen in der Wirklichkeit zu helfen.

      Moderne Symbolik und Werbung Die Symbolkraft des Drachen ist in der Gegenwart ungebrochen, trotz der Vielfalt an Typen und Bedeutungsnuancen, die sich in der jahrtausendelangen Entwicklung des Mythos herausgebildet haben. Als beinahe weltweit bekanntes Fabelwesen mit hohem Wiedererkennungswert wird er in der Werbebranche als Markenzeichen genutzt. Einigen Städten, Ländern und Fußballvereinen dient der Drache als Wappentier, einigen Vereinen, Clubs und Institutionen als Abzeichen. Von den traditionellen Bedeutungen ist im modernen Zusammenhang das Element der Kraft und Stärke ausschlaggebend. Auf Produkten aus Wales wirbt ein roter Drache mit dem Stolz auf das alte Nationalsymbol, und für die Macht Chinas ist der Drache eine allgemein verständliche Metapher.

      Die Bösartigkeit hat der Drache auch in den westlichen Industrieländern weitgehend eingebüßt. Der Bedeutungswandel erklärt sich einerseits mit dem Einfluss der Fantasy-Kultur und der Kinderliteratur. Das Drachenlogo eines Hustenbonbons etwa zeigt ein possierliches buntes Tierchen, das lächelnd eine Frucht anbietet. Andererseits sind im globalen Marketing spezifische Anforderungen zu erfüllen. Werbekampagnen, in denen böse Drachen auftreten, sind im weltweiten Maßstab nicht durchsetzbar. So musste 2004 der Sportartikelhersteller Nike eine Kampagne in China abbrechen, in der Basketballstar LeBron James als Drachenkämpfer auftrat. Der Sieg über Chinas Nationalsymbol wurde dort als Provokation empfunden.

      III. Erklärungen Naturgeschichtliche Ursprungshypothesen Eine Reihe von Theorien versucht, die Entstehung der Drachenfigur auf reale Naturerscheinungen zurückzuführen. Obwohl in seriöser Forschung schon früh abgelehnt, wird bis heute in pseudo- und populärwissenschaftlichen Darstellungen die Frage erörtert, ob und unter welchen Umständen bei Menschen eine Erinnerung an Saurier entstanden sein könnte. Auch heutige Tierarten wie der indonesische Komodowaran oder die ebenfalls südasiatischen Arten des Gemeinen Flugdrachen und der Kragenechse werden als Ursprung des Drachenmythos diskutiert, und die – wissenschaftlich allerdings nicht anerkannte – Kryptozoologie betreibt die Suche nach weiteren, noch unentdeckten Tierarten, die als Vorbilder gedient haben sollen.

      Eine andere Hypothese nimmt an, dass der Drachenmythos auf Fossilienfunde zurückzuführen sei. Zwar haben in Höhlen gefundene Skelettreste vorzeitlicher Tiere, etwa von Höhlenbären und Wollnashörnern, nachweislich einzelne Drachensagen beeinflusst, den Mythos selbst können die Fossilienfunde aber nicht erklären.

      Die moderne Naturwissenschaft beschäftigt sich nicht mehr mit Drachen als möglichen Lebewesen innerhalb der biologischen Systematik.

      Mythologische Deutung In den kosmogonischen Mythen Europas und des Vorderen Orients überwiegt die Vorstellung des Drachen als Symbol des Chaos, der Finsternis und der menschenfeindlichen Mächte. Die Mythenforschung des 19. Jahrhunderts setzte den Drachen daher in engen Zusammenhang mit dem Mond; die „Vernichtung“ und das Wiedererscheinen des Mondes spiegele sich im Drachenmythos wider, so die Auffassung des Indologen Ernst Siecke. Die Deutung des Drachen als Symbol für den Widerstreit der Naturkräfte, den Wechsel der Jahreszeiten und den Sieg des Sommers über den Winter gehört ebenfalls zu den „lunaren“ Erklärungsversuchen der frühen mythologischen Forschung. Im 20. Jahrhundert erkannte eine neuere Forschergeneration, vertreten zum Beispiel durch den Franzosen Georges Dumézil, den Niederländer Jan de Vries und den Rumänen Mircea Eliade, im Drachenkampf eine Parallele zu den Initiationsriten. Der Kampf wird in dieser Erklärung der Initiationsprüfung gleichgesetzt: So wie der Held den Drachen besiegen muss, so muss der Initiand eine Prüfung bestehen, um in eine neue Stufe seines Lebenszyklus eintreten zu können. Die Begegnung mit einem bedrohlichen Wesen, ein rituelles Verschlungenwerden und eine anschließende „Wiedergeburt“ sind häufige Bestandteile von Initiationsritualen. De Vries sah darüber hinaus im Drachenkampf einen Widerhall der Schöpfungstat. Ebenso wie die Initiation sei der Kampf mit der Bestie eine Nachahmung der Schöpfungsereignisse. Der Kampf ist es, der den Drachen am deutlichsten von der mythischen Schlange unterscheidet. Im Gegensatz zu ihr vereint das Mischwesen in sich die gefährlichsten Merkmale verschiedener Tiere und menschenfeindlichen Elemente. Der Drache wird damit zum perfekten Gegner.

      Calvert Watkins versucht, den Drachenkampf als Bestandteil einer Indo-Europäischen Poetik zu beschreiben.

      Die Drachenvorstellung Ostasiens war in sehr früher Zeit möglicherweise mit dem Totemismus verbunden, wobei der Drache ein Kompositum verschiedener Totemtiere darstellen soll. In Fernost wurde er einerseits zum Symbol der kaiserlichen Herrschaft, andererseits zu einer Wassergottheit. Zeremonien, bei denen Drachen um Regen angefleht werden, weisen ihn geradezu als Regengott aus; wie das Rind steht der Drache im Zusammenhang mit einem Fruchtbarkeitskult. Die Verbindung mit dem Wasser ist allen Drachenmythen gemeinsam. Eine Synthese „westlicher“ und „östlicher“ Vorstellungen stellt Rüdiger Vossen vor: Die Wunschbilder „Bändigung des Wassers, Bitten um ausreichenden Regen und um Fruchtbarkeit für Felder und Menschen“ sind nach seiner Auffassung Bindeglieder der Drachenmythen verschiedener Kulturen.

      Psychologische Deutung In der von Carl Gustav Jung (1875–1961) gegründeten Analytischen Psychologie gilt der Drache als Ausprägung