Heide Fritsche

Silvaplana Blue I - Auch ich war einst in Arkadien


Скачать книгу

die Tür zur Bar auf. Ein Gast, der sich verirrt hatte oder durstig war? Ein Mondsüchtiger?

      An Einbrecher und Überfall glaubte ich nicht. Silvaplana ist ein Dorf. In einem Dorf passt jeder auf jeden auf, auch im Dunkeln. Das ist kein Milieu für Einbrecher. Die Dorfmentalität lag mir vom Bauernhof meines Vaters her im Blut. Solches Gesindel bekam die Mistgabel ins Gesicht, einen Biss vom Hund ins Bein und einen Tritt in den Hintern.

      Ein Mann kam herein, lächelte höflich, setzte sich ohne Aufforderung an meinen Tisch und stellte sich vor. Es war der Polizeichef von Chur.

      Großes Staunen: „Wie kommen Sie hier rein? Alles ist abgeschlossen. Wenn ich kontrolliere, so kontrolliere ich. Da gibt es keine Hintertüren.“

      Er käme überall rein, sagte er mir.

      Überall? Wo überall? Was heißt überall? In hunderten von Häusern, Hotels, Geschäften? Ein riesengroßes Schlüsselbund an der Hüfte – klirr – klirr - …? wie eine Märchenfigur, die nachts durch zugige Schlösser streift und mit Gespenstern kämpft? Ich war imponiert. So was gab es also auch! Ich fragte nicht, ich staunte.

      Er kam öfters. Ich gewöhnte mich daran.

      Alle anderen fünfzig bis hundert Männer unterschieden sich für mich nur darin, ob sie klein, groß, dick oder dünn waren, elegant, grau, lässig, banal. Gesichter, Namen, Personen, Positionen, nichts blieb haften.

      Ich schnatterte drauflos, gedankenlos, ziellos, mit allen und mit niemanden, über alle Welt und über gar nichts. Das war eine Eine-Frau-Show, ein Mädchen gegen vierzig, fünfzig Männer. Jeder sprach mit jedem, jeder widersprach jedem. Rufe, Zwischenrufe. Ich hatte keine Zeit für Diskussionen. Ich hatte keine Zeit für intime Gespräche, ich hatte einen Job zu verrichten, ich war hier für alle und alles verantwortlich. Doch von allen Seiten prasselten Fragen auf mich ein:

      „Was machen Sie in ihrer Freizeit?“

      „Wann haben sie frei?“

      „Kennen sie Pontresina“?

      „Celerina?“

      „ Soglio?“

      Ich kannte gar nichts. Ich war das erste Mal in der Schweiz. Ich hatte keine Ahnung, wo das eine oder das andere war. Ich wusste nicht, was das eine oder andere war.

      Ich sagte: „Danke schön!“, mal nach rechts, mal nach links, zu allen und zu jedem. Wer? Was? Wo? Wann? Warum? Nichts! Ich fragte nicht. Ich hatte keine Zeit zum Fragen. Ich hatte keine Zeit zum Überlegen. Ich merkte mir keine Namen, Gesichter und Verabredungen. In der Bar war eine Kakophonie von Stimmen und Geräuschen, die wie ein Wasserfall über mir niederstürzten. Ich lächelte, nickte, schenkte ein, servierte, räumte auf, räumte ab, sagte „ja“ hier und „ja“ da, „Guten Tag“, „Guten Abend“, „Auf Wiedersehen“, „Gute Nacht“ und im nächsten Augenblick hatte ich alles wieder vergessen.

      Dann kam ein Skandal nach dem anderen.

       II.

      Als ich den ersten Tag frei hatte, stand meine Chefin in der Bar, um mich zu vertreten. Gegen Mittag kamen zwei Männer in die Bar, zu früh für mich, denn nach den langen Nächten in der Bar war ich noch nicht aufgewacht.

      Die beiden Männer hatten polierte Lackschuhe an den Füssen. Sie hatten einen schwarzen Frack und ein blendend weißes Hemd an. Das Hemd hatte elegante Fältchen. Am Hals baumelte eine schwarze Fliege. Mafiabrüder? Frank Sinatra in zweifacher Ausführung? Hollywood in Silvaplana!

      Mein Verstand setzte aus. Mein Verstand setzt immer aus, wenn ich eine Situation nicht rationell abschätzen und kontrollieren kann.

      Meine Chefin runzelte die Stirne. Sie sagte irgendetwas: „Bitte seien Sie vorsichtig.“, oder so etwas Ähnliches, was ich nicht richtig verstand. Offensichtlich kannte sie die Herren. Ich kannte sie nicht.

      Die Herren bestellten Getränke, Whisky und Cognac, auch für meine Chefin und für mich. Ich hatte noch keinen Kaffee getrunken. Ich hatte noch nichts gegessen. Ich hatte noch nie in meinem Leben Whisky oder Cognac getrunken. Jetzt sah ich vier Frank Sinatras. Die Bar drehte sich in grauen Schleiern. Wortfetzen schwebten in der Luft. Meine Chefin schwankte, mein Stuhl schwankte.

      Immer, wenn der Boden unter mir zu schwanken anfängt, verschwinde ich, prinzipiell, automatisch. Das ist ein angeborener Fluchtinstinkt:

      „Entschuldigen Sie bitte, ich muss was essen“, sagte ich. Ich segelte in Richtung Küche. Mit meinem Auszug aus der Bar verschwand mein Bewusstsein. Mehr weiß ich nicht.

      Den Rest der Geschichte erzählte mir Angelo, der italienische Koch vom Hotel. Als ich in der Küche ankam, hatte ich einen Schuh an und einen Teller in der Hand. Auf dem Teller lag ein Fischkopf. Woher ich einen Teller und einen Fischkopf hatte, weiß ich nicht. Mit Teller und Fischkopf habe ich mich in meiner vollen Länge auf Angelos Küchentisch gelegt.

      Der Hausknecht vom Engadiner Hof hatte einen Körper wie ein barocker Kleiderschrank, einen Intelligenz Quotienten wie ein Kind und ein Gemüt wie ein neugeborenes Lamm. Der hat mich wie einen Mehlsack über seine Schulter geschmissen und die vier Etagen hinauf in mein Zimmer transportiert.

      Ich habe über vierundzwanzig Stunden lang bis zum nächsten Mittag geschlafen. Mit den acht Stunden Schlaf, aus dem ich gerade aufgewacht war, war das ein sechsunddreißig Stunden Marathon Schlaf. Und das von einem Whisky oder Cognac?

      Meine sorglos überhebliche Selbstsicherheit hätte ich hier in Zweifel ziehen können. Habe ich aber nicht. Ich habe über derartige Episoden erst gar nicht nachgedacht. Das war eine Episode wie viele andere. Das war ein Tag wie jeder andere. Damit war ich fertig. Darüber nachdenken? Spekulieren? Das war Energieverschwendung.

      Frank Sinatra und Kompagnon habe ich nie wieder gesehen. Um mich herum Schweigen. Das berühmte Schweigen von Silvaplana. Das sollte ich noch besser kennen lernen.

      Meine Informationsquelle war die Küche vom Engadiner Hof. Ich habe in jedem Betrieb, in der Schule, auf den Hochschulen und Universitäten das Putzpersonal, die Küchen- und Kantinenangestellten geliebt. Die kannten jeden Klatsch, jede Gewohnheit, jede schwache Seite der Angestellten, Lehrer und Professoren. Das waren meine wichtigsten Kontaktpersonen für alle Auskünfte.

      Von der Stadt Dortmund bekam ich ein Stipendium. Dafür musste ich in der Studierendenmitverwaltung vom Abendgymnasium mitarbeiten. Vor der Arbeit versammelten wir uns jeden Morgen in der Schulkantine um den Herd. Das war unser Frühstückklatsch. Hier waren Putzfrauen, Küchenhilfen und der Wachmeister versammelt. Jeder wusste alles über jeden. Jeder klatschte über alles und über jeden.

      Der Wachmeister hatte ein besonderes Hobby: Alle neuen Gesichter, die zur Tür herein kamen, wurden registriert, abgeschätzt und kategorisiert:

      „Bei jedem, der kommt und geht, weiß ich genau, wie ich den einschätzen kann.“

      „Ach?

      „Ich kann genau sagen, wie lange jeder einzelne auf der Schule bleibt und wie schnell er wieder verschwindet.“

      „Das stimmt hundertprozentig“, kommentierten die Küchenhilfen.

      „Wo haben Sie mich eingestuft?“, fragte ich neugierig.

      „Die ist als erste wieder weg. Zu dünn, zu schmächtig, zu nervös. Kein Durchhaltevermögen. Spinnewippe.“

      Das fand ich herrlich. Wenn ich unterschätzt wurde, zündete das einen Funken in meiner Seele, denn ich wusste etwas, was die anderen nicht wussten. Dieses Wissen brauchte ich nicht zu erklären. Niemand fragte danach. Das ging niemanden etwas an. Dieses Wissen von dem Wissen, was die anderen nicht hatten, gab mir ein Gefühl der Überlegenheit. Ich hütete mich, solche Irrtümer aufzuklären oder dagegen zu protestieren, auch in Silvaplana.

      In Silvaplana waren es der Koch vom Engadinerhof