November fünfzehn und« – es genügt, wenn Sie Fräulein Suse zu mir sagen, wollte das Backfischchen noch hinzufügen. Aber Emma hatte sie schon mit freundschaftlichem Lachen unterbrochen: »Schön, dann sage ich noch du zu dir, Suschen. Das ist auch viel gemütlicher.«
Nun, das fand Suse ganz und gar nicht. Im Gegenteil, sie empfand es als Dreistigkeit von Emma, daß diese eine Untersekundanerin, die in der Schule doch schon »Sie« genannt wurde, zu duzen wagte. Tränen der Enttäuschung und der Empörung schossen dem Backfischchen heiß in die Braunaugen. Daran war bloß der Herbert schuld. Solche Gemeinheit!
Herbert empfing seine Zwillingsschwester droben mit tiefen Verbeugungen. »Wie haben gnädiges Fräulein geschlafen? Wollen gnädiges Fräulein geruhen, meine Schwelle zu übertreten« – klatsch – da hatte die Suse in ihrem Ärger ihrem Zwilling eine Backpfeife versetzt.
Dem blieb vor Staunen der Mund offen. »Biste denn ganz und gar hops, Mensch? Hast wohl lange keinen Kinnhaken besehen? Also bitte, wenn es dich durchaus danach gelüstet, eine in die Batterie zu kriegen.« Er ging sachlich sogleich zum Boxerangriff über.
Aber Suse war ganz und gar nicht danach zumute. Sie brach in Tränen aus. Nicht nur wegen der Kränkung, die ihr von Emma widerfahren war, sondern vor allem, weil sie ihrem Zwilling gerade am Feiertag als Osterei eine Backpfeife versetzt hatte. Das kam nicht oft vor. Meist war die Sache umgekehrt.
»Du bist schuld, nur du«, schluchzte sie.
»Woran denn?« fragte Herbert gleichmütig und bearbeitete seinen braunen Schädel mit der nassen Haarbürste.
»Daß ich dir eine 'runtergehauen habe und daß – und daß die neue Emma jetzt ›du‹ zu uns sagt.«
Da war es heraus.
»Die sagt ›du‹ zu uns? Wie kommt sie denn dazu? Das soll sie nur mal wagen. Dann sage ich zu ihr auch du«, begehrte Herbert auf.
»Na, da wir doch Zwillinge sind, nennt sie dich sicher auch du.« Suse trocknete ihre Tränen. Es tröstete sie etwas, daß sie einen Leidensgefährten hatte.
Die Überlegungen, wo man wohl die Ostereier für Paul am besten versteckte, lenkten sie von ihrem Schmerz ab, denn wenn man andern Freude machen will, vergißt man eigenes Leid.
Es waren ziemlich umfangreiche Ostereier, die es für Paul unterzubringen gab. Wo sollte man den Anzug verstecken? »Wir lassen ihn am besten in Vaters Schrank hängen«, schlug Herbert vor.
»Wie kann Paul denn dann annehmen, daß das sein Anzug sein soll«, ereiferte sich Suse. »Dazu ist Paul viel zu bescheiden, um auf solchen Gedanken zu kommen. Wir müssen den Anzug in einen Karton packen. Die Schachtel schieben wir dann unter ein Bett oder ein Sofa oder – – –.«
»Wir stellen sie einfach auf den Kleiderschrank. Das merkt er nicht. Auf das Leichteste kommt man am schwersten. Und den Foulardbinder hänge ich an die Stachelbeersträucher im Garten. Die sind ganz versteckt hinten am Gitter«, überlegte Herbert. »Die Wurst für seine Brote zum Abend habe ich in rosa Seidenpapier gewickelt. Ich werde sie als Rose auf einem Blumenbeet wachsen lassen. Der arme Paul ißt jetzt immer unbelegt, um sich Bücher kaufen zu können, die er notwendig braucht. Er hat es mir erzählt«, berichtete Suse.
»Hm«, machte Herbert und dachte einen Augenblick daran, wie gut er selbst es hatte. Er bekam alle Bücher, die er zum Lernen brauchte und belegte Abendbrotschnitten noch außerdem. Hatte er das nicht immer als ganz selbstverständlich hingenommen?
Der Professor liebte an den Sonn- und Feiertagen eine gemütliche Frühstücksstunde mit seiner Familie. Wochentags hastete ein jeder, um rechtzeitig an die Arbeit zu kommen. Aber trotzdem der Osterkuchen vorzüglich geraten war, trotz des süßen Duftes, den Suses Veilchen ausströmten, wollte heute kein rechtes Behagen am Frühstückstisch aufkommen. Die Zwillinge waren von quecksilberiger Unruhe. Immer wieder fiel ihnen ein noch besseres Versteck für ihre Ostereier ein. Und dazwischen beschwerte sich Suse, daß das neue Mädchen, nachdem sie sich die Anrede »gnädiges Fräulein« verbeten hatte, sie jetzt duzte, was große Heiterkeit bei den Eltern hervorrief.
»Sei froh, Suschen, wenn du noch solange wie möglich ein Kind sein kannst. Diese glücklichen Zeiten kommen nie wieder«, meinte die Mutter.
Diesmal war Suse mit ihrer Mutti nicht einer Meinung.
Paul pflegte Sonntags gegen zehn Uhr im Sternenhaus zu erscheinen. Er war stets den ganzen Tag über eingeladen. Bei schönem Wetter machten Professors mit den Kindern eine Wanderung in die herrliche Umgebung Jenas, oder die Jugend flog auch allein aus. Ein Sonntag ohne ihr Ferienkind Paul war für die Zwillinge undenkbar.
Die Ostereier waren nun endgültig untergebracht. Während die Eltern auch für ihre Zwillinge die süßen Gaben des Osterhasen versteckten, standen Professors Zwillinge an der Gartentür und spähten die Pappelallee hinab, ob der Erwartete sich nicht zeigen wollte. Es war herrlich, nach dem langen Winter ohne Mantel im Garten sein zu können und sich von der Ostersonne, die es schon recht gut meinte, wärmen zu lassen. Suse strich zärtlich mit der Hand über die noch kahlen Sträucher.
»Ist es nicht wunderbar, Herbert, wie alles wieder zum Leben erwacht? Das ist Ostern, die Auferstehung in der Natur«, sagte sie nachdenklich, denn sie hatte ein sinniges Gemüt.
»Was soll denn daran wunderbar sein?« Herbert, der nüchterne und sachliche, zuckte die Achseln. »Nach dem Winter kommt der Frühling, und darauf folgt der Sommer und Herbst. Das ist schon immer so gewesen seit Adams Zeiten.«
»Ach, du willst mich nicht verstehen. Paul wird mir das sicher nachfühlen können, der hat oft ähnliche Gedanken wie ich.«
»Natürlich wieder Paul – laß ihn dir doch in Gold fassen. Schade, daß der nicht dein Zwilling ist. Der würde viel besser zu deinem Backfischfimmel passen als ich. Wir Männer verstehen uns im allgemeinen nicht auf Gefühlsduselei.« Während seine Stimme überschnappte, warf sich der vierzehnjährige Mann gewaltig in die Brust.
Herbert war eifersüchtig auf Paul, immer schon. Da Paul stets nett und gefällig zu Suse war, zog sie seine Gesellschaft oft der des Bruders vor. Herbert gab natürlich Suse die Schuld daran und bedachte nicht, daß er selbst mit seiner rücksichtslosen Art die Ursache dazu war. Als Pauls lange, schmächtige Gestalt mit dem Glockenschlag zehn in die zum Sternenhaus emporführende Pappelallee einbog, setzte sich Suse in Trab. Sie dachte nicht mehr daran, daß man sie heute »gnädiges Fräulein« tituliert hatte; wie ein Kind flog sie die Straße hinab. Bubi mit ihr um die Wette, während sein junger Herr langsamer und gemessener folgte, wie sich das für einen Untersekundaner schickte.
»Paul, wir sind versetzt – alle beide in die Untersekunda –, Herbert hat eine feine Osterzensur bekommen, meine ist soso lala«, rief sie ihm schon von weitem entgegen.
»Gratuliere, Suse«, Paul kam mit langen Schritten auf sie zugestapft und schüttelte ihr die Hand. Sein bleiches Gesicht überflog freudige Röte. »Habe ich es dir nicht gesagt, du brauchst keine Angst vor der Versetzung zu haben, Suschen? Dir fehlt bloß Selbstvertrauen.«
»Vater sagt, Herbert hätte genug Selbstvertrauen für uns beide. Aber ich wünschte wirklich, ich hätte etwas mehr davon.«
»Was habe ich?« fragte Herbert, der seinen Namen gehört hatte, neugierig näherkommend.
»Allzu viel Selbstvertrauen«, zog ihn Suse auf.
»Besser als zu wenig wie du«, gab Herbert prompt zurück. »Tag, Paul, hast dich ja heute so fein gemacht – geradezu elegant siehst du aus!« sagte er scherzend. Er dachte nicht daran, daß er jemanden mit Spott für etwas verletzte, wofür der andere nichts konnte.
Paul versuchte der verlegenen Röte, die ihm Herberts Worte ins Gesicht trieben, Herr zu werden. »Elegant – du lieber Himmel! Darauf macht mein Einsegnungsanzug wirklich keinen Anspruch mehr. Ich bin zufrieden, wenn der fadenscheinige Stoff noch den Sommer über aushält. Vielleicht kann ich während des Urlaubs noch irgend etwas nebenbei verdienen, daß ich zum Winter einen neuen erschwingen kann«, sagte er mit der geraden Ehrlichkeit, die ihn auszeichnete.
Suse hatte die taktlosen