Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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einmal zurück, als wolle er sich vergewissern, dass ich nicht gleich aus dem Fenster springe.

      Ich habe plötzlich Angst, allein zu sein. Aber schließlich bin ich ein großes Mädchen und kann meinen Bruder nicht bitten, in mein Bett zu klettern und mich im Arm zu halten. So antworte ich nur kleinlaut: „Ist gut“, und lege mich wieder hin.

      Die Tür geht leise zu und ich bin wieder allein. In meinem Kopf rotieren sofort wieder die Bilder von meinem Traum. Ich versuche sie mit aller Macht zu verdrängen und an etwas anderes zu denken. Aber das Geträumte drängt immer wieder erbarmungslos an die Oberfläche und ich suche schon fast verzweifelt nach etwas, das mich auf andere Gedanken bringt. Und dann sehe ich ihn vor mir. Seine dunklen Haare lugen unter einer schwarzen Kappe hervor und seine dunklen Augen sehen mich mit diesem unergründlichen Blick an. Der Junge, dem ich an der Schule das erste Mal begegnete und der heute in meinem Bus saß. Ich höre seine tiefe Stimme murmeln: „Hallo!“ und spüre in meinem Inneren eine seltsame Wärme, die mich zu durchfluten beginnt. Ich stelle ihn mir genau vor und versuche mich an alles zu erinnern. So konzentriert werde ich endlich ruhiger.

      Erst als mich der Wecker weckt und ich aus einem traumlosen Schlaf emporsteige, weiß ich, dass ich doch irgendwann wieder eingeschlafen sein musste. Die Bilder des Albtraumes sind verblasst und nicht mehr so furchteinflößend. Martin und der Krieg scheinen mir plötzlich fremd und als das, was sie waren: nur ein Traum. Nur Julians Worte machen mir noch Angst, als sie sich in meinem Bewusstsein an die Oberfläche kämpfen. Hatte er mir einen Bären aufgebunden? Hatte ich als kleines Kind wirklich schon solche Träume gehabt und war von einem Seelenklempner wieder zurechtgerückt worden? Warum erinnere ich mich nicht daran?

      Ich bin es gewohnt, seltsame Träume zu haben. Ich steige in ihnen in eine Welt hinab, die mich immer wieder in die Zeit von diesem Kurt versetzt. Ich sah mich schon über wunderbar farbenprächtige Basare gehen, in denen bunt gekleidete, verschleierte Frauen mir ihre Ware anboten. Ich betrat Häuser, die düster und unwirklich erschienen und von einem aromatischen Dunst durchdrungen waren. Dort gab es nur Männer, manche mit Turbanen auf dunklen Haaren, alle mit braun gebrannten Gesichtern und dunklen Augen. Ich fühlte mich so anders, als diese Menschen aus diesem Land und dennoch glaubte ich mich ihnen zugehörig.

      In anderen Träumen sah ich mich in unserem Haus in Westrup. Ich stellte orientalische Mitbringsel auf eine alte Anrichte und stapelte Bücher in Regale. Viele Bücher … Unmengen von Büchern. Manche waren so alt, dass sie fast auseinanderfielen. Ich kletterte im Flur über Kisten, die beschriftet waren und studierte die Aufschriften. Eine besonders schwere Kiste schob ich in eine dunkle Ecke der Diele und verdeckte sie mit einem großen Tuch. Dann machte ich mich an die anderen und untersuchte ihren Inhalt … viele Male und lange Nächte hindurch.

      Wieder andere Träume bescherten mir Familientreffen, die mich zum Teil im Nachhinein sehr erschreckten. Ich sah die Menschen um mich herum ganz genau und in allen Details und sprach sie mit Namen an: Marie … Werner … Josephine … Heinrich. Die alte Frau und den alten Mann am Tisch, denen ich in diesen Träumen besonders tiefe Gefühle entgegenbrachte, nannte ich sogar einmal Mutter und Vater.

      „Möchtest du noch ein Stück von meiner Grützwurst? Die hast du doch früher so gemocht?“, hörte ich die alte Frau einmal sagen und antwortete ihr: „Danke Mutter, ich habe wirklich genug gegessen.“

      Der alte Mann richtete in diesem Traum seine tiefe Stimme an mich: „Natürlich musst du dein Vaterland verteidigen. Dein Cousin Gerhard hat sich auch freiwillig gemeldet, obwohl er eine Frau und ein Kind hat. Glaubst du, dass seiner Frau gefällt, dass ihr Mann in den Krieg zog? Aber er ist nun mal ein Held unserer Tage.“

      „Nein, Vater, das glaube ich nicht.“ Mein Blick glitt über den Tisch zu einer jungen Frau, die blass und kränklich wirkte. Auf dem Schoß saß ein blonder Bub.

      Nach solchen Nächten war ich immer besonders durcheinander. Ich träumte von diesen Menschen, als wären sie meine Familie und das, obwohl es niemanden von ihnen in meinem Leben wirklich gibt.

      Seit wir in dieses Haus gezogen waren, habe ich diese Träume oder ähnliche immer wieder geträumt. Ich glaube, auch schon vorher. Immer wieder spiegeln diese Träume ein Leben wider, das nichts mit meinem zu tun hat. Bei Tageslicht verdränge ich sie dann und stelle mich dem wirklichen Leben, und in dem gibt es seit kurzem einen neuen Aspekt, der mein Leben seltsam zu beeinflussen scheint - diesen Jungen.

      Eine angenehme Wärme durchzieht mich, wenn ich an ihn denke und letzte Nacht half er mir sogar, die Schrecken des Albtraumes zu überwinden.

      Wer er wohl ist und woher er wohl kommt? Ich hoffe, ihn bald wiederzusehen.

      Seit Julian mich aus meinem Traum riss, kehren sie öfter und heftiger wieder und meine Nächte werden immer mehr zu einer Qual. Julian hat sich zur Gewohnheit gemacht, mich nach besonders heftigen Träumen aufzuwecken, damit Mama und Papa nichts von meiner nächtlichen Odyssee bemerken.

      Ich bin verzweifelt und wage kaum noch ins Bett zu gehen. Das sieht man mir auch bald an. Mama wirft mir immer besorgtere Blicke zu, wenn ich morgens am Frühstückstisch erscheine und fragt immer öfter, ob ich denn gut geschlafen habe.

      So auch an diesem Morgen.

      Julian spinnt eine rettende Erklärung zusammen. „Mama, wusstest du, dass man in einem Schlafzimmer immer erst nach Wasseradern suchen muss, damit man nicht versehentlich sein Bett daraufstellt? Denn Wasseradern bescheren einem einen unruhigen Schlaf.“

      Fast hätte ich laut losgelacht, konnte es aber noch rechtzeitig unterdrücken. Julian ist manchmal echt verrückt.

      Aber als ich an diesem Nachmittag von der Schule nach Hause komme, ist mein Zimmer umgestellt. Mein Bett steht in einer anderen Ecke und meine Mutter strahlt mich glücklich und verschwitzt an.

      Ich bin wenig begeistert, hoffe aber, dass die Träume wirklich aufhören.

      Tatsächlich geht eine ganze Woche ins Land, ohne dass ich schlecht träume. Ich kann es fast nicht glauben. Den einzigen Schrecken, den ich in diesen Nächten erleben musste, wenn ich mal wach wurde, beschert mir ausgerechnet Julian.

      Meinen Bruder saß im Dunkeln auf meinem Sofa und starrte mich an.

      Das erste Mal fragte ich ihn, was er in meinem Zimmer sucht. Schließlich hatte ich keinen schlimmen Traum.

      Er verdrückte sich sofort, ohne zu antworten, in sein Zimmer, wie ein Flaschengeist, den man mit einem Spruch wieder zurück in seine Flasche hext.

      Als er weg war, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Schließlich stand er mir bisher zur Seite, wenn mich die Träume heimsuchten, die mich oftmals zu Tode erschreckten. Ihn nun so rüde zurechtgewiesen zu haben, tat mir leid.

      So beschloss ich bei den nächsten zwei Malen, in denen ich Julian in meinem Zimmer erwischte, ohne dass ich schlimm träumte, seine Anwesenheit zu ignorieren, drehte mich einfach um und schlief weiter. Eigentlich ist es ja ganz beruhigend, dass er über meinen Schlaf zu wachen scheint. Wenn ich mich auch frage, ob er da immer nur sitzt oder ob er auch mal auf meinem Sofa schläft? Fast bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil er sich so viel Stress wegen mir macht.

      Es ist der letzte Freitag im April und die Sonne scheint so verlockend, dass ich schnell den Computer wieder ausmache, an dem ich mir mehrere Seiten über Alchemie aus dem Internet ausgedruckt hatte. Eine seltsame Faszination geht in letzter Zeit für mich von diesem Thema aus und ich bin wie besessen, mehr darüber zu erfahren. Aber das will ich in der hellen Sonne des Frühsommers tun.

      Ich hole mir eine Decke und ein Kissen, dazu ein Glas Eistee und marschiere in den Garten. Der Rasen ist am Tag zuvor von Julian gemäht worden und der Garten wirkt dadurch gepflegter. Es macht richtig Spaß, sich einen schönen Fleck Erde zu suchen und sich die Sonne auf den Rücken scheinen zu lassen, während man die Seiten durchliest, die von den Chemikern des Mittelalters berichten. Ich lese von dem Stein der Weisen, der immerwährendes Leben verspricht, von der Herstellung irgendeines minderen Stoffes in Gold und einer Methode, Gold in ein Lebenselixier umzuwandeln, das alle Krankheiten heilen soll. Die letzten Seiten berichten von einer Smaragdtafel, die ein gottgleicher Mensch Namens Hermes geschrieben haben soll und