Else Ury

Nesthäkchen und der Weltkrieg


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      LUNATA

Nesthäkchen und der Weltkrieg

      Nesthäkchen und der Weltkrieg

      Nesthäkchen Band 4

      © 1917 Else Ury

      © Lunata Berlin 2020

      Inhalt

       1. Kapitel

       2. Kapitel

       3. Kapitel

       4. Kapitel

       5. Kapitel

       6. Kapitel

       7. Kapitel

       8. Kapitel

       9. Kapitel

       10. Kapitel

       11. Kapitel

       12. Kapitel

       13. Kapitel

       14. Kapitel

       15. Kapitel

       16. Kapitel

       17. Kapitel

       18. Kapitel

       19. Kapitel

       Über die Autorin

      1. Kapitel

      Nesthäkchen lernt Opfer bringen

      Glutheiß war es auf dem Balkon. Trotzdem derselbe auf der Schattenseite lag, fühlte man die sengende Hitze, mit der die Augustsonne die Straßen Berlins einheizte, selbst hier oben.

      Ein alter Frauenkopf mit silbernem Scheitel und ein goldblonder Kinderkopf neigten sich über graue Strickarbeit. Emsig klapperten die Nadeln in den Händen der alten Dame, während die Kinderfinger nur widerwillig die dicke Wollarbeit förderten. Immer langsamer bewegten sich die braungebrannten kleinen Hände, und schließlich schleuderte Annemarie den kaum begonnenen Pulswärmer mit jähem Entschluss auf den Steinboden.

      »Puh – ich ersticke!« Das seegebräunte runde Kindergesicht, das sich luftschnappend in die Höhe hob, sah nicht weniger rot aus als das feuerrote Musselinkleid, welches das elfjährige Mädchen trug. »Liebstes, einziges Großmuttchen, was sollen denn bloß unsere Soldaten bei dieser dollen Bärenhitze mit den dicken Pulswärmern? Ich glaube, ich kann meine Strickarbeit ruhig bis zum Winter verschieben.« Das kleine Mädchen ließ die Tat dem Wort auf dem Fuß folgen. Ohne sich darum zu kümmern, daß Puck, das kleine weiße Zwerghündchen, an der auf dem Boden liegenden Wollarbeit zu zerren und zu beißen begann, sah sie untätig den lustigen Rauchwölkchen nach, die aus den Schornsteinen Berlins zu dem fahlen Augusthimmel emporwirbelten.

      »Herzchen, wenn wir erst zum Winter die Finger zu regen beginnen, müssen unsere armen Truppen in dem kalten Russland frieren. Jetzt heißt es fleißig sein, solange wir noch Sommer haben, damit bis zum Winter alles fertig ist.« Schneller ließen Großmamas Finger die Stricknadeln klappern, als gelte es, gleich ein ganzes Regiment gegen russische Kälte zu vermummen.

      »Aber mir ist doch so doll heiß!« Das Enkelchen warf die frischen Lippen unmutig auf. »Ich muß mich überhaupt erst wieder an die olle Berliner Luft gewöhnen. Wenn man ein ganzes Jahr lang an der Nordsee gewesen ist, wo immer frischer Seewind geweht hat, dann drückt die Stadtluft auf den Kopf, hat Vater gesagt.«

      »Nun höre mal, mein Herzchen«, Großmamas gütiges Gesicht wandte sich liebevoll dem hübschen Blondkopf zu. »Glaubst du, daß unsere braven Feldgrauen, die täglich mit Jubel und Begeisterung in den Krieg hinausziehen, nicht auch durch die Augusthitze leiden? Hast du nicht ihren schweren Ranzen gesehen, und meinst du, daß der Helm nicht mehr auf den Kopf drückt als die Großstadtluft? Und doch singen und jubeln die Braven, trotzdem die tagelange Fahrt in den engen, glühenden Eisenbahnwaggons zum Kriegsschauplatz gewiß keine Annehmlichkeit ist. Du hast es ja mit eigenen Augen gesehen, Herzchen, als wir Sonntag Abend dem Vater das Geleit zum Bahnhof gaben. Wollen wir Daheimgebliebenen uns von unfern tapferen Kriegern beschämen lassen? Sollten wir nicht auch etwas Unbequemlichkeiten für sie, die ihr Leben für uns hingeben wollen, in den Kauf nehmen und jedes Opfer für sie bringen?« Großmamas liebe, klare Augen sahen ernsthaft in die strahlenden Blauaugen des kleinen Mädchens.

      Das mußte den Blick beschämt senken.

      »Wenn ich groß wäre, würde ich bestimmt auch Opfer für unser Vaterland bringen«, meinte Annemarie schließlich ungewöhnlich nachdenklich. »Dann würde ich Schwester werden und die Verwundeten pflegen wie Tante Lenchen. Ach, Großmuttchen, wäre das schön! Denk' mal, dann hätte ich mich nicht gleich wieder von Vati, den ich doch ein ganzes Jahr lang nicht gesehen habe, trennen müssen! Mit ihm wäre ich zusammen in den Krieg gezogen – au, fein wäre das!« Die strahlenden Augen der Kleinen blitzten unternehmungslustig.

      »Es ist nicht nötig, mein liebes Kind, daß man groß ist und Großes leistet in dieser gewaltigen Zeit der Erhebung Deutschlands. Auch die Kinder können im kleinen Opfer bringen und ihr Scherflein dazu steuern. Nichts ist zu gering, auch das winzigste Steinchen, das man zu dem großen Bau der Kriegsarbeit beiträgt, ist von Wert.« Sprechend wanderte Großmamas Blick zu dem zu Boden geschleuderten Pulswärmer, mit dem sich Puck sachverständig beschäftigte.

      Annemarie bückte sich schnell und entriß ihrem vierfüßigen Freund das verhedderte Strickzeug.

      »Wenn ich doch wenigstens ein Junge wäre, dann könnte ich ganz anders helfen als hier bloß bei der dummen Strickerei. Wie gut hat's Hans als Pfadfinder! Der kann den ganzen Tag auf dem Bahnhof sein und die durchziehenden Soldaten verpflegen. Das ist tausendmal lustiger, als sich mit den mopsigen Pulswärmern quälen.« Vergeblich bemühte sich die Kleine, wieder Ordnung in die von Puck herabgezerrten Maschen zu bringen.

      Großmama mußte sich erbarmen.

      »Ich glaube nicht, daß der Hans gar so leichte Arbeit bei seinem Bahnhofsdienst in diesen heißen Augusttagen hat. Müde und erhitzt genug kommt er des Abends heim. Und was das Lustige anbelangt, Herzchen, gerade etwas, was uns schwer fällt, hat doppelten Wert. Unser eigenes kleines Ich und all unsere persönlichen Wünsche müssen wir jetzt hintenan setzen, nur an das Wohl unseres Vaterlandes und seiner braven Verteidiger dürfen wir denken. Sonst ist es kein richtiges Opfer.«

      Großmama seufzte unhörbar. Ja, sie selbst hatte all ihr Wünschen in diesen ersten schweren Augusttagen unterdrücken gelernt. Beide Schwiegersöhne hatte sie ins Feld ziehen lassen müssen.