Friedrich Wilhelm Nietzsche

Götzen-Dämmerung


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wenn sie anbeten – sie werden allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten. Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und Wachstum sind für sie Einwände – Widerlegungen sogar. Was ist, wird nicht; was wird, ist nicht... Nun glauben sie alle, mit Verzweiflung sogar, ans Seiende. Da sie aber dessen nicht habhaft werden, suchen sie nach Gründen, weshalb man 's ihnen vorenthält. »Es muß ein Schein, eine Betrügerei dabei sein, daß wir das Seiende nicht wahrnehmen: wo steckt der Betrüger?« – »Wir haben ihn«, schreien sie glückselig, »die Sinnlichkeit ist's! Diese Sinne, die auch sonst so unmoralisch sind, sie betrügen uns über die wahre Welt. Moral: loskommen von dem Sinnentrug, vom Werden, von der Historie, von der Lüge – Historie ist nichts als Glaube an die Sinne, Glaube an die Lüge. Moral: Neinsagen zu allem, was den Sinnen Glauben schenkt, zum ganzen Rest der Menschheit: das ist alles ›Volk‹. Philosoph sein, Mumie sein, den Monotono-Theismus durch eine Totengräber-Mimik darstellen! – Und weg vor allem mit dem Leibe, dieser erbarmungswürdigen idée fixe der Sinne! behaftet mit allen Fehlern der Logik, die es gibt, widerlegt, unmöglich sogar, ob er schon frech genug ist, sich als wirklich zu gebärden!«...

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      Ich nehme, mit hoher Ehrerbietung, den Namen Heraklits beiseite. Wenn das andere Philosophen-Volk das Zeugnis der Sinne verwarf, weil dieselben Vielheit und Veränderung zeigten, verwarf er deren Zeugnis, weil sie die Dinge zeigten, als ob sie Dauer und Einheit hätten. Auch Heraklit tat den Sinnen unrecht. Dieselben lügen weder in der Art, wie die Eleaten es glauben, noch wie er es glaubte – sie lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugnis machen, das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer... Die »Vernunft« ist die Ursache, daß wir das Zeugnis der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht... Aber damit wird Heraklit ewig recht behalten, daß das Sein eine leere Fiktion ist. Die »scheinbare« Welt ist die einzige: die »wahre Welt« ist nur hinzugelogen...

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      – Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsern Sinnen! Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht: es vermag noch Minimaldifferenzen der Bewegung zu konstatieren, die selbst das Spektroskop nicht konstatiert. Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugnis der Sinne anzunehmen – als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie. Oder Formal-Wissenschaft, Zeichen-Lehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem: ebensowenig als die Frage, welchen Wert überhaupt eine solche Zeichen-Konvention, wie die Logik ist, hat. –

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      Die andere Idiosynkrasie der Philosophen ist nicht weniger gefährlich: sie besteht darin, das Letzte und das Erste zu verwechseln. Sie setzen das, was am Ende kommt – leider! denn es sollte gar nicht kommen! – die »höchsten Begriffe«, das heißt die allgemeinsten, die leersten Begriffe, den letzten Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang als Anfang. Es ist dies wieder nur der Ausdruck ihrer Art zu verehren: das Höhere darf nicht aus dem Niederen wachsen, darf überhaupt nicht gewachsen sein... Moral: alles, was ersten Ranges ist, muß causa sui sein. Die Herkunft aus etwas anderem gilt als Einwand, als Wert-Anzweiflung. Alle obersten Werte sind ersten Ranges, alle höchsten Begriffe, das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre, das Vollkommne – das alles kann nicht geworden sein, muß folglich causa sui sein. Das alles aber kann auch nicht einander ungleich, kann nicht mit sich im Widerspruch sein... Damit haben sie ihren stupenden Begriff »Gott«... Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum... Daß die Menschheit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst nehmen müssen! – Und sie hat teuer dafür gezahlt!...

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      – Stellen wir endlich dagegen, auf welche verschiedne Art wir (– ich sage höflicherweise wir...) das Problem des Irrtums und der Scheinbarkeit ins Auge fassen. Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür, daß etwas da sein müsse, das uns irreführe. Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurteil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaßen verstrickt in den Irrtum, nezessitiert zum Irrtum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, daß hier der Irrtum ist. Es steht damit nicht anders als mit den Bewegungen des großen Gestirns: bei ihnen hat der Irrtum unser Auge, hier hat er unsre Sprache zum beständigen Anwalt. Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie: wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der Vernunft, zum Bewusstsein bringen. Das sieht überall Täter und Tun: das glaubt an Willen als Ursache überhaupt; das glaubt ans »Ich«, ans Ich als Sein, ans Ich als Substanz und projiziert den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge – es schafft erst damit den Begriff »Ding«... Das Sein wird überall als Ursache hineingedacht, untergeschoben; aus der Konzeption »Ich« folgt erst, als abgeleitet, der Begriff »Sein«... Am Anfang steht das große Verhängnis von Irrtum, daß der Wille etwas ist, das wirkt – daß Wille ein Vermögen ist... Heute wissen wir, daß er bloß ein Wort ist... Sehr viel später, in einer tausendfach aufgeklärteren Welt kam die Sicherheit, die subjektive Gewißheit in der Handhabung der Vernunft-Kategorien den Philosophen mit Überraschung zum Bewusstsein: sie schlossen, daß dieselben nicht aus der Empirie stammen könnten – die ganze Empirie stehe ja zu ihnen in Widerspruch. Woher also stammen sie? – Und in Indien wie in Griechenland hat man den gleichen Fehlgriff gemacht: »wir müssen schon einmal in einer höheren Welt heimisch gewesen sein (– statt in einer sehr viel niederen: was die Wahrheit gewesen wäre!), wir müssen göttlich gewesen sein, denn wir haben die Vernunft!«... In der Tat, nichts hat bisher eine naivere Überredungskraft gehabt als der Irrtum vom Sein, wie er zum Beispiel von den Eleaten formuliert wurde: er hat ja jedes Wort für sich, jeden Satz für sich, den wir sprechen! – Auch die Gegner der Eleaten unterlagen noch der Verführung ihres Seins-Begriffs: Demokrit unter anderen, als er sein Atom erfand... Die »Vernunft« in der Sprache: o was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben...

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      Man wird mir dankbar sein, wenn ich eine so wesentliche, so neue Einsicht in vier Thesen zusammendränge: ich erleichtere damit das Verstehen, ich fordere damit den Widerspruch heraus.

      Erster Satz. Die Gründe, daraufhin »diese« Welt als scheinbar bezeichnet worden ist, begründen vielmehr deren Realität – eine andere Art Realität ist absolut unnachweisbar.

      Zweiter Satz. Die Kennzeichen, welche man dem »wahren Sein« der Dinge gegeben hat, sind die Kennzeichen des Nicht-Seins, des Nichts – man hat die »wahre Welt« aus dem Widerspruch zur wirklichen Welt aufgebaut: eine scheinbare Welt in der Tat, insofern sie bloß eine moralisch-optische Täuschung ist.

      Dritter Satz. Von einer »anderen« Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt, daß nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns mächtig ist: im letzteren Falle rächen wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines »anderen«, eines »besseren« Lebens.

      Vierter Satz. Die Welt scheiden in eine »wahre« und eine »scheinbare«, sei es in der Art des Christentums, sei es in der Art Kants (eines hinterlistigen Christen zu guter Letzt –) ist nur eine Suggestion der décadence – ein Symptom niedergehenden Lebens... Daß der Künstler den Schein höher schätzt als die Realität, ist kein Einwand gegen diesen Satz. Denn »der Schein« bedeutet hier die Realität noch einmal, nur in einer Auswahl, Verstärkung, Korrektur... Der