Andreas Geist

Frau vor Sonnenuntergang


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mir noch ein bisschen Zeit“, flehte ich in den grauen Morgen hinein.

      Wenn ich einen Ausweg finden wollte, musste ich im Jetzt eine Bestandsaufnahme machen. Daran führte kein Weg vorbei.

      Kein Gedanke an die Vergangenheit, kein was wäre wenn ich doch nur hätte und kein Gedanke an die Zukunft. Der flüchtige Augenblick war die einzige Realität des Daseins. Wenn man sich auf ihn konzentrierte, dann fielen alle Ängste ab. Angst kam aus der Ungewissheit. Sie war die Unwägbarkeit verzweifelter Projektionen des Jetzt in die Zukunft.

      Ich suchte meine Mitte und blickte in die Sonne, die durch den Nebel lugte und mir die paar Quadratzentimeter Haut wärmte, die mir von meinen Wangen ein Signal ins Gehirn schickten. Ich lauschte einem einsamen Specht, der sein Spatzenhirn in einem aberwitzigen Stakkato gegen einen Baumstamm donnerte und vermutlich ebenfalls keine Hirnzelle erübrigte für Gedanken an das Gestern oder Morgen.

      Wenn ich nur auch meinen Kopf gegen irgendetwas donnern könnte. Als Kind hatte ich mir mit der Faust auf die Stirne geklopft, wenn ich einen unangenehmen Gedanken oder Traum loswerden wollte.

      Aus dieser Perspektive hatte ich den Specht noch gar nicht betrachtet. Vielleicht hatte ich ihm mit dem Spatzenhirn unrecht getan. Vielleicht war er eine tragische Gestalt, die in Ermangelung anderer Möglichkeiten auf diese mechanische Weise versuchte, die eigene, trübe Stimmung aus sich hinaus zu hämmern. Wir waren seelenverwandt, doch er konnte anders als ich seinen Kopf bewegen.

      Jetzt ein Specht sein!

      Ach was redete ich. Eine Ameise in einem riesigen Ameisenhaufen. Ohne Individualität, ohne berauschende Zukunftsperspektive, aber mit sechs Beinchen, die von A nach B liefen, selbst wenn A von B nicht allzu weit entfernt sein durfte.

      Meine Güte! Mein Verstand arbeitete auf Hochtouren so, als müsste er die überschüssige Energie abbauen, die meine Gliedmaßen nun nicht mehr abrufen konnten.

      War ich vielleicht immer schon so intelligent und eloquent gewesen und hatte es nur nicht bemerkt, weil mich das Herumrennen und Fuchteln mit den Armen zu sehr in Beschlag genommen hatte?

      Konnte man vielleicht nur durch das Ausschalten der Störfunktionen unterhalb des Halses zu einem Steven Hawking werden?

      Ich hatte mir als Jugendlicher Wesen von einem anderen Stern mit riesigen Köpfen und verkümmerten Beinen vorgestellt. Jemand der ein Raumschiff bauen konnte, das Lichtjahre überwand, konnte kaum einen Großteil seiner Lebenszeit mit narzisstischen Selbstbetrachtungen vor einem Badezimmerspiegel und stundenlangem Radfahren verbringen, das lediglich dazu diente, die jugendlichen Proportionen dieses Spiegelbildes krampfhaft für alle Zeit zu bewahren.

      Ich hatte mir gnadenlose Ehrlichkeit geschworen und nun war es an der Zeit, alle Eitelkeiten schonungslos aufzudecken. Vielleicht war diese Situation die Chance zum Kern meiner Persönlichkeit vorzudringen. Die Chance alles Fett wegzuschneiden, bis reine Muskelmasse übrig blieb.

      Ich schloss die Augen für einen Augenblick. Es war an der Zeit mein altes Leben loszulassen?

      „Der Tod nimmt alles weg, was Du nicht bist. Das Geheimnis des Lebens ist zu sterben, bevor du stirbst und herauszufinden, dass es keinen Tod gibt".

      Das sagte Eckhard Tolle in diesem Moment zu mir. Doch er hatte leicht reden. Ich öffnete die Augen und atmete tief ein. Mich überkam ein unbändiger Hustenreiz, den ich nur mit Mühe unterdrücken konnte.

      Noch immer hatte ich die Entscheidung nicht getroffen, ob ich weiterleben oder an diesem Ort meinen wertlosen Körper verlassen wollte. Die Frage ging Hand in Hand mit der Überlegung, ob ich Angst vor dem Tod hätte und an diesem Leben hinge.

      „Ja, ja“, schrie es förmlich in meinem Kopf, doch ein kühler Verstand fragte aus einer anderen Ecke dieser grauen Masse, ob ich mir ein Leben als bemitleideter Krüppel vorstellen könnte, den eine Maschine im Sekundentakt aufpumpte, und dem man einen Schlauch in den Penis schob, damit seine Blase nicht platzte, um danach mit einem Gummifingerling die Kacke aus dem Darm zu kratzen.

      Die Tränen liefen mir über die Wangen, so viel konnte ich spüren.

      Immerhin, das mit dem Atmen klappte noch spontan. Ein Fünkchen Hoffnung taumelte wie ein Glühwürmchen durch die schwarze Nacht meiner Seele.

      Könnte es sein, dass ich nur vorübergehend gelähmt war?

      Sollte ich all meinen Mut zusammennehmen und versuchen meine Finger zu bewegen?

      Ich schielte zu meiner rechten Hand hinunter, die aussah wie immer. Der Unterschied war lediglich, dass ich nicht mehr sicher war, ob sie vielleicht jemand anderem gehörte.

      Wenn ich nun sehen würde, dass sich ein Finger bewegte? Wahrscheinlich würde ich vor Freude ohnmächtig werden.

      Wenn es aber nicht klappte?

      Ich könnte es nicht ertragen.

      Was war jetzt mit der schonungslosen Ehrlichkeit?

      Du Feigling!

      Ein Auge hätte heulen können vor Wut auf mich selbst, und das andere vor Verzweiflung.

      Ich verdrehte meine Augen, bis sie schmerzten, und hieß den Schmerz willkommen. Grotesk. Er war das letzte sichere Lebenszeichen.

      „Ich schmerze also bin ich“, zitierte meine graue Substanz so selbstbewusst wie falsch Descartes.

      Ich konnte meine Finger der rechten Hand eindeutig identifizieren, wenn ich das linke Auge zukniff und mit dem anderen über die Kimme der Kragenspitze meines Anoraks zielte. Es bewegte sich nichts. Noch einmal schickte ich eine Flut guter wie auch schlechter Schwingungen in Richtung meiner Extremitäten.

      Lasst mich nicht im Stich! Einer könnte sich doch erbarmen! Zwei Arme, zwei Beine, zehn Zehen und zehn Finger und keiner von Euch Bastarden ist online?

      Blinde Wut packte mich und meine Halsmuskeln verkrampften sich.

      Hurra Schmerz, wenigstens Du lässt mich nicht im Stich. Konnte ich meinen Augen trauen? Vielleicht trommelten meine Finger gerade einen fröhlichen Takt und nur meine Augen und das Gehirn waren so in ihrer Situationsanalyse gefangen, dass sie nichts zuließen, was ihrer kleinen runden Welt der Verzweiflung gefährlich werden könnte.

      „Ich bin hier der Chef, das war ich immer schon gewesen seit meiner Geburt. Wollt ihr das nicht kapieren?“

      Nein, ich war nicht mehr der Chef. Die Rebellen hatten die Regierung übernommen. Das Regierungsgebäude war noch in meiner Hand aber sämtliche Rundfunkanstalten sendeten bereits die Botschaft, dass der alte Präsident außer Landes geflohen sei.

      „Ich bin noch da!“

      Ich musste die Kontrolle zurückgewinnen. Noch war gar nichts verloren.

      Wer kämpft, kann verlieren, doch wer nicht kämpft, hat schon verloren.

      Wo hatte ich nur alle diese Weisheiten über die Jahre abgespeichert? Gestern hätte ich sie noch als Plattitüden beschmunzelt, doch jetzt entfalteten sie sich zu wahren Stützen meines Widerstandes. Wenn man eine Revolution gewinnen wollte, dann musste man Transparente mit plakativen Wahrheiten ausgeben. Philosophen waren nie große Anführer geworden und wie viel Philosophie konnte ich meinem rechten großen Zeh schon zumuten?

      Du sollst Dich bewegen, verdammt!

      2

      Der letzte Wutausbruch musste einen Schalter in meinem Gehirn umgelegt haben. Ich war ohnmächtig geworden und hatte einen wunderbaren Traum gehabt, in dem ich über Felder und Wiesen schwebte wie ein Engel. Würde es so sein?

      Ich hatte so einen Traum nur einmal in meinem Leben gehabt. Damals war ich noch ein Kind, und als ich aufwachte, war ich unglücklich darüber gewesen, dass ich nicht zurück konnte in die heile Welt meines Traums.

      Ich versuchte auch jetzt, das Gefühl festzuhalten. Ich unterdrückte den Wunsch, mich zu bewegen. Der Himmel war klar. Es musste Abend sein. Über