wie viel ich dafür tat. Ich wollte es nur nicht wahrhaben. So lebte ich einen Zwiespalt, der irgendwann zutage treten musste. So weit war es aber noch lange nicht.
6
Ich war immer schon ein nachdenklicher Mensch. Vielleicht hing es damit zusammen, dass ich mit 10 Jahren eine Augenkrankheit hatte, die mich zu einem viermonatigen Klinikaufenthalt zwang.
Durch einen Umzug meiner Eltern war ich noch nicht lange in der neuen Schule, etwa zwei Monate, als es mit den Augen losging. Die Ärzte waren ratlos und probierten vieles aus in der Hoffnung, dass doch irgend etwas die Viruserkrankung zum Stoppen bringen musste. Ein solcher Versuch waren Milchspritzen; es wurde heiße Milch in den Gesäßmuskel gespritzt, die hohes Fieber erzeugte in der Hoffnung, dadurch die Virusinfektion zum Verschwinden zu bringen. Das war eine Tortur, die mich jedes Mal total erschöpfte; und sie wurde nicht nur einmal angewandt, aber die erhoffte Wirkung blieb aus.
Besuch erhielt ich nur von meinen Eltern; durch den Umzug vom Land in die Stadt gab es noch überhaupt niemanden, den ich und der mich kannte. Umso erstaunter war ich, als eines Tages die Türe aufging und eine Schar Gleichaltriger aus meiner Klasse, vorneweg der Klassenlehrer, ins Zimmer drang. Ich war völlig perplex, damit hatte ich nie gerechnet, vielmehr habe ich gedacht, dass sie mich noch überhaupt nicht wahrgenommen hätten. Es musste damals einen tiefen Eindruck auf sie gemacht haben, als mich Neuen der Lehrer fragte, wo ich denn herkäme und ich zur Antwort gab: „Von de Gscherten“. Gemeint waren die Bauern, bei denen wir vorübergehend gewohnt hatten.
In dieser Zeit bestand für mich die Gefahr, blind zu werden, und ich war gezwungen, mich damit auseinander zu setzen wie jemand, dem gesagt wird, dass er Krebs hat. Diese Gefahr des Erblindens mag wohl dazu beigetragen haben, dass ich schon in einem so jungen Alter tiefer über das Leben nachgedacht habe als es andere tun.
Da steht man dann vor der Frage, was der Sinn des Lebens überhaupt ist, die ganze Fülle des Lebens reduziert sich auf das Allernotwendigste. Was habe ich vom Leben noch, wenn ich blind bin? Im Angesicht dieser Möglichkeit verblasst alles, was für die meisten im Leben von Bedeutung ist, wie Schönheit, Geld, Reisen, Tanzen, eben das Leben in seiner Fülle genießen. Es bleibt nichts als das Allerwichtigste, und das ist mein Weg, den ich in diesem Leben gehen soll; davon war ich überzeugt und meine Religiosität war mir dazu die große Stütze. Wenn Gott will, dass ich als Blinder meinen Weg gehen soll, dann gehe ich eben als Blinder durchs Leben. Es würde zwar beschwerlich sein, aber doch möglich.
Später wollte ich immer eine Blinde heiraten, wohl aus Dankbarkeit, dass mir dieses Schicksal erspart geblieben ist.
Ich war natürlich in der Kinderabteilung und das Essen war eben ein Krankenhausessen. Jeder musste immer alles aufessen, ganz gleich, was es gab, und das war nicht immer das Leckerste. Die Schwestern verstanden da keinen Spaß. Und natürlich gab es Dinge, die Kinder gar nicht gern essen, und das war Spinat. Weil aber alle gezwungen wurden, den Spinat zu essen, gab es regelmäßig welche, die sich erbrachen. Und da waren die Schwestern unbarmherzig; nicht nur, dass der Betreffende lautstark ausgeschimpft wurde, er musste sein Erbrochenes selber aufwischen, was häufig ein nochmaliges Erbrechen hervorrief. Und damit nicht genug: anschließend musste er weiteressen. Das wäre heute wohl kaum noch denkbar. Zum Glück war ich nicht davon betroffen, denn ich war so erzogen worden, dass alles gegessen wurde, was auf den Tisch kam.
Eines Tages, als es wieder Spinat gab und ich schon den halben Teller leergegessen hatte, würgte es mich plötzlich und ich konnte nicht verhindern, dass sich ein Schwall halbverdauten Spinats auf den Teller ergoss. Es war mir so peinlich und ich fürchtete nun das schlimmste Donnerwetter. Aber wie erstaunt war ich, ich konnte es gar nicht fassen, dass sich die Schwestern sofort rührend um mich bemühten, mich ins Bett brachten und Fieber maßen.
Vierzehn Tage später wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Eine natürliche Angina hatte das Fieber ausgelöst, das durch die Milchspritzen erzeugt werden sollte, und ja auch tatsächlich hervorgerufen worden war – das Fieberthermometer stieg meistens auf über 40 Grad –, aber eben künstlich erzeugt bei mir nicht wirkte. Es musste sich auf natürliche Weise einstellen. Seitdem baue ich auf die heilenden Kräfte des eigenen, meines Körpers und bin sehr restriktiv im Umgang mit Medikamenten. Für andere Menschen mögen ja andere Gesetze gelten, heute habe ich längst begriffen, wie verschieden wir alle sind, aber ich lebe nach meinen Erfahrungen.
7
Ich war vollauf beschäftigt mit Schule, Training und kleineren Turnieren, bei denen ich ein ständiges Auf und Ab erlebte, so dass niemand im Ernst damit rechnete, dass aus mir einmal ein großer Tennisspieler werden würde.
Das war es ja, was mir so zu schaffen machte, dass es bei mir keine Beständigkeit gab, dass nach einigen guten Ballwechseln fast regelmäßig ein Einbruch kam. Ich konnte 40 : 0 in einem Spiel oder 5 : 1 in einem Satz vorausliegen und verlor dann noch das Spiel oder den Satz. Es gab ja auch so viel, was es zu beherrschen galt. Allein den Stoppball zu üben, brachte mich fast zur Verzweiflung. Unterschnitt ich ihn zu sanft, ging er nicht über das Netz, drückte ich ihn mehr nach vorne, ging er zu weit ins Feld, so dass er vom Partner leicht zu erreichen war. Ähnlich war es mit dem Lop; entweder setzte ich ihn zu hoch an, dann ging der Ball ins Aus, hielt ich ihn niedriger, konnte er vom Gegner erreicht werden. Es war zum Verzweifeln, aber es stachelte auch meinen Ehrgeiz an. Ich wollte das alles in den Griff bekommen, es musste doch durch Übung zu erreichen sein, dass solche Abläufe automatisiert wurden. Aufgeben war nicht meine Art und so übte ich immer wieder zäh die gleichen Abläufe. Squash kam mir dabei besonders entgegen, denn da brauchte ich niemanden. Ich konnte stundenlang immer die gleichen Bewegungen üben, ohne dass ich fürchten musste, die Geduld eines Partners zu sehr zu strapazieren. Ich versuchte, den Slice immer auf die gleiche Höhe zu spielen und suchte mir Ziele aus, die ich immer wieder anpeilte. Auch den Top-Spin versuchte ich so zu spielen, dass er immer wieder an die gleiche Stelle zurückkam. Besonders wichtig war mir, dass niemand sehen konnte, wie ich mich verbesserte. Das war mein Traum: Eines Tages auf den Platz zu gehen, als Nobody, und den besten Tennisspieler zu besiegen. Da merkte ich, wie sich der Zwerg so richtig aufpumpte, dass er aufpassen musste, nicht zu zerplatzen.
Als kleiner Junge hatte ich da ein Erlebnis, als ich mit dem Fahrrad freihändig fuhr. Ich war stolz, freihändig fahren zu können und wollte es allen zeigen: „Schaut her, wie toll ich freihändig fahren kann“, schrie es in mir. Aber schnell merkte ich, dass es überhaupt keinen auf der Straße interessierte, dass da ein kleiner Junge auf dem Fahrrad seine Künste zeigte. Da wurde mir schon klar, dass anderen das, was für mich so wichtig und so herzeigenswert war, überhaupt nichts bedeutete. Da begegnete mir zum ersten Mal der Zwerg. Ich hatte immer das Empfinden, dass ich mich zu wichtig nahm und litt darunter. Aber so sehr ich mich auch bemühte, dagegen etwas zu tun – immer wieder ertappte ich mich dabei.
Später beobachtete ich, wie es die anderen hielten. Da erlebte ich, wie Mütter, die kleine Kinder oder gar Babys hatten, über gar nichts anderes mehr sprachen als über ihre Kinder. Die Welt bestand nur aus dem Wohl und Wehe ihres Jüngsten: dass das Baby schon zwei Tage keinen Stuhlgang mehr hatte, wie es gestern so viele Blähungen hatte, dass die Windeln bald zu klein werden und man viel zu viele gekauft hatte, dass man viele Kleidungssachen im Secondhand-Laden kaufe, weil man es ja sonst nicht mehr bezahlen könnte, dass andere gar keine Ahnung davon haben, wie sehr man mit so einem kleinen Knirps rund um die Uhr beschäftigt sei, und so weiter. So langsam begriff ich, dass jeder in seiner Welt lebt, in der er der Mittelpunkt zu sein schien. Für das, was die anderen bewegte, brachten nur die wenigsten echtes Interesse auf. Meistens wartete der eine nur, bis der andere geendet hatte, damit er dann von sich erzählen konnte. Das erlebte ich sehr deutlich bei meiner Mutter; wenn sie mit ihrer Nachbarin auf ihre Krankheiten zu sprechen kam – und das kam es immer, ein anderes Gesprächsthema habe ich kaum je erlebt – dann konnte es keine von beiden erwarten, bis die andere geendet hatte, um sofort von ihren Krankheiten zu berichten. Da erlebte ich den Zwerg bei anderen und nahm mir vor, es anders zu machen.
Ich selbst hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich entdeckte, dass ich mich in den Mittelpunkt gestellt hatte;