Ole R. Börgdahl

Kowalskis Mörder


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bereits einen Namen gegeben, einen Arbeitstitel, so wie sie es im Präsidium machten, wenn ein neuer Fall dokumentiert wurde. Kowalskis Mörder! Dabei war gar nicht sicher, ob Jürgen Kowalski überhaupt tot war. Marek dachte noch einmal über all das nach, was er vor einer knappen Stunde mit Thomas besprochen hatte. Sie hatten zwar länger nichts von Jürgen Kowalski gehört, aber das musste nichts bedeuten.

      Marek schüttelte unbewusst den Kopf. Es gab eigentlich keine Beweise für dies alles hier, oder doch? Woher wusste KOK Kai Bokel, dass für den Personenschutz von Harald Prossmann ein Ersatzmann kommen würde. Er zögerte. Was sollte er Kowalskis Mörder schreiben? Einen Lagebericht? Noch war Marek die Lage unbekannt. Er begann zu tippen, keine ganzen Sätze, eher eine Telegramm-Nachricht.

      »Bin in der Finckensteinallee. Treffen mit Personenschutz Prossmann 8:00 Uhr. warte auf Anweisungen. was ist geplant?«

      Er schickte die Nachricht ab und starrte bestimmt ein, zwei Minuten lang auf das Display seines Smartphones. Er hatte die Signaltöne für ankommende Nachrichten nahezu auf lautlos gestellt, darum gab es nur ein leises Ping, als sich das Display wieder erhellte und das HIKE-Symbol erschien. Marek öffnete die Nachricht.

      »Es ist immer etwas geplant«, lautete die knappe, nichtssagende Antwort.

      Er wollte erneut schreiben, um genauere Instruktionen zu erbitten. Er tat es nicht. Eine Bewegung ließ ihn aufschauen. Zwei Fahrradfahrer näherten sich dem Eingang der Schwimmhalle. Ein älteres Paar, er mit Glatze und sie mit einer Wollmütze, unter der zwei geflochtene, graue Zöpfe hervortraten. Sie fuhren weiter zur Stirnseite des Gebäudes. Erst jetzt sah Marek, dass sich dort ein Fahrradständer befand. Er zählte elf Räder, die bereits dort abgestellt waren.

      Es klingelte schrill. Marek sah nach rechts. Zwei Frauen kamen auf ihren Fahrrädern aus einem schmalen Weg, der hinter einem Gebüsch auf den Parkplatz führte. Sie stiegen vor dem Fahrradständer ab, man begrüßte sich, schloss die Fahrräder an. Sporttaschen wurden von den Gepäckträgern geschnallt. Der Mann mit der Glatze nahm einen Picknickkorb von der Halterung seines Lenkers. Die Fahrradfahrer machten sich auf den Weg in die Schwimmhalle. Marek hob sein Smartphone an. Sie kamen direkt auf ihn zu, ohne ihn zu bemerken. Er machte zwei, drei Fotos, dann erreichten die vier den Eingangsbereich und betraten die Schwimmhalle durch die von den Skulpturen flankierte Holztür.

      Plötzlich war es wieder ruhig. Marek hatte schon den Griff der Fahrertür in der Hand, als ein roter Mercedes SLK schnittig auf den Parkplatz fuhr. Mit quietschenden Reifen hielt er auf das weiße E-Klasse Coupé zu und parkte direkt neben dem anderen Fahrzeug. Ein Mann um die vierzig, im Anzug mit Rollkragenpullover, stieg eilig aus, während sich der Heckdeckel des SLK automatisch öffnete. Im Vorbeigehen griff er nach einer Sporttasche, schlug den Kofferraumdeckel wieder zu und eilte Richtung Schwimmhalle. Marek notierte sich auch das Kennzeichen des SLK. Er fotografierte den Wagen und auch den Mann, der nicht auf seine Umgebung achtete und wie die Fahrradfahrer ebenfalls in der Schwimmhalle verschwand. Marek schaute schließlich auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor acht.

      *

      Um genau zwei Minuten nach acht hielt Thomas in zweiter Reihe vor dem mehrstöckigen Mietshaus in Berlin Köpenick, das ihm Marek als Wohnadresse von Steffanie Hartfeld genannt hatte. Die gesamte Straße war bis auf die letzte Lücke zugeparkt. Thomas schaltete wie gewohnt das Warnblinklicht ein, legte seine Dienstwagenmarke hinter die Windschutzscheibe und stieg aus. Dann besann er sich anders, er war ja nicht im Einsatz, wenigstens nicht offiziell. Er setzte sich wieder ans Steuer und fand in einer Seitenstraße doch noch einen freien Parkplatz.

      Er kehrte zu dem Mietshaus zurück, blieb einen kurzen Moment vor dem Hauseingang stehen, ging aber gleich weiter, nachdem er Steffanie Hartfelds Namen auf einem der Klingelschilder entdeckt hatte. Bei der Fahrt durch die Straße hatte er einen schmalen Durchgang gesehen. Er ging hinein, kletterte über das geschlossene Gatter eines Fahrradunterstandes und gelangte so in einen recht großen Hinterhof, der üppig bepflanzt war. Beete, Stauden und Sträucher, ein kleiner Kinderspielplatz mit einem Klettergerüst, einer Rutsche und einer Sandkiste, in der vergessene Plastikförmchen und ein blauer Kindereimer lagen. In der Mitte des Hofes stand eine mächtige Eiche, die ihre blattlosen Äste nach oben zu den Fenstern des dritten und vierten Stocks reckte.

      Gleich links von dem Durchgang stand eine ganze Flotte von Mülleimern für Papier, Restmüll und Bioabfall. Daneben hingen auf einer Stange mehrere gelbe Säcke, die einen süßlichen Geruch verströmten. Dem Arrangement der Mülltonnen schloss sich gleich der Abgang zu einem Keller an. Thomas sah sich um, ging dann die wenigen Stufen hinunter zu einer Tür, die allerdings verschlossen war. Er eilte wieder hinauf in den Hof, fand aber ein paar Meter weiter einen zweiten Kellerzugang. Diesmal war die Tür unten sogar nur angelehnt. Thomas blickte erneut zu den Fenstern hoch, die auf den Hinterhof gingen, konnte aber keinen Beobachter ausmachen.

      Er schlüpfte durch die Tür und betrat einen kalten Flur, der leicht nach Waschmittel und stark nach Heizöl roch. Nach wenigen Schritten traf er auf eine weitere unverschlossene Tür, die auf einen anschließenden Flur führte, von dem einige Kellerräume abgingen. Der Heizölgeruch ließ nach, als er auf die Treppe stieß, die hinauf ins Parterre des Mietshauses führte. Eine dritte Tür oben, am Ende der Kellertreppe, war ebenfalls kein Hindernis mehr und Thomas stellte wieder einmal fest, dass es oft sehr einfach war, in die alten Berliner Mietshäuser des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu gelangen. In den verwinkelten Hinterhöfen gab es immer einen oder mehrere Zugänge. Mit etwas Glück war eine Tür nicht verschlossen und auf dem Weg ins Haus begegnete einem auch niemand, und wenn doch, dann konnte man sich meist in einer Nische oder einem der Kellerräume verbergen.

      Oben ging Thomas zunächst durch den Hausflur. Eine Zwischentür ließ sich nur von innen öffnen. Er blockierte sie mit einem Kinderfahrrad, das neben der Tür an der Flurwand lehnte. Er ging weiter zu den Briefkästen neben der Eingangstür, die in der Regel von außen offen war, damit der Postbote oder die Zeitungszusteller an die Briefkästen herankamen. In Steffanie Hartfelds Postkasten steckte die Gratisausgabe eines Anzeigenblattes. Thomas zog sie heraus und griff von oben in den Briefschlitz. Er konnte allerdings nicht feststellen, ob noch nicht entnommene Post im Kasten steckte.

      Er klemmte sich die Zeitung unter den Arm und ging wieder durch die Zwischentür zurück in den Hausflur. Gleich neben dem Kellerabgang befand sich das Treppenhaus, das hinauf zu den oberen Stockwerken führte. Einen Aufzug gab es nicht. Thomas erklomm die knarrende Treppe. Als er den vierten Stock erreichte, war er leicht außer Atem. Er gönnte sich eine kleine Pause, bevor er Steffanie Hartfelds Klingel drückte. Ein Drei-Klang-Gong war in der Wohnung zu hören. Eine Minute danach blieb es allerdings immer noch ruhig, keine Reaktion, keine Laute, die auf die Anwesenheit der Bewohner hinwiesen.

      Thomas versuchte es ein zweites Mal, der Gong verhallte, danach wartete er eine weitere Minute. Er stellte sich dicht vor die weiße Holztür, die etwas verzogen war und die Türzarge nicht ganz ausfüllte. Er horchte erneut nach Geräuschen. Er besah sich das Türschloss und begann leicht gegen das Türblatt zu drücken. Er zog seitlich am Türknauf und verstärkte den Druck. Der Spalt zwischen Zarge und Türblatt wurde größer, bis die Holztür mit einem Quietschen aufsprang.

      Thomas kontrollierte sofort die Schließe, konnte aber keinen Schaden feststellen. Die Wohnungstür war offenbar nur eingerastet, aber nicht richtig abgeschlossen gewesen. Er zog die Tür leise hinter sich zu, horchte noch einmal und begann seine Erkundungstour. Auf dem kleinen Schuhschrank im Flur legte er die Zeitung ab, die er von unten mitgebracht hatte. Dabei kontrollierte er gleich die vielen kleinen Dinge, die in einer zweckentfremdeten Obstschale lagen. Zwei Paar Handschuhe, ein Leuchtarmband, wie man es beim Joggen im Dunkeln trug, eine angebrochene Packung Kaugummi, ein Einkaufsbon vom letzten Dezember. Steffanie Hartfeld hatte ihre Weihnachtseinkäufe noch kurz vor dem Fest bei einem Aldi-Markt erledigt.

      Thomas stellte sich vor den Schuhschrank, griff links und rechts und zog das Möbel ein Stück von der Wand. Er fand außer einer Staubschicht allerdings nichts, was hinter den Schrank gerutscht war. Dann öffnete er noch die beiden Klappen, hinter denen sich mehrere Paare Damenschuhe befanden, Stiefel, Pumps, Sportschuhe, Pantoffeln und sogar ein Paar Sandalen. Es war sicherlich nur eine kleine Auswahl der Schuhe, die Steffanie Hartfeld tatsächlich besaß.

      Thomas