Caroline Régnard-Mayer

Das Gesicht hinter der Diagnose Multiple Sklerose


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Der langfristige Krankheitsverlauf wird aber dadurch nicht beeinflusst. Hierfür stehen Medikamente für eine Langzeitbehandlung und Reduzierung der Schubfrequenz zur Verfügung.

      Fazit: Kortikoide führen nur zu einer Verkürzung und Abschwächung einzelner Schübe, nicht aber zu einer Beeinflussung des Krankheitsverlaufs!

      Deshalb sollte man bei jedem Schub überlegen, ob die Gabe von Kortikoiden und die damit verbundenen Nebenwirkungen gerechtfertigt ist.

      Nach einem Schub kehren entweder die normalen Funktionen zurück (vollständige Remission) oder das entzündete Nervengewebe vernarbt (sklerosiert) und es kommt zur unvollständigen Rückbildung der Symptome (Remission). Vor allem nach den ersten Schüben bilden sich die Beschwerden fast immer vollständig zurück. Je länger eine schubförmige MS besteht, desto unwahrscheinlicher die komplette Rückbildung der Symptome. Nicht so bei dem primär chronisch progredienten Verlauf. Hier gehen Beschwerden ineinander über ohne wesentliche Rückbildung. Es gibt allenfalls einen vorübergehenden Stillstand, teils mit zusätzlichen Schüben und es kommt zu einer zunehmenden Verschlechterung und Behinderung.

      4. Wie verläuft die Krankheit? (Verlaufsformen)

      Launisch und in ihrem eigenen Rhythmus, das würde ich gerne antworten. Aber das würde meine Leser nicht zufrieden stellen. Oft überlege ich mir genau, was ich dem Betroffenen antworte, denn sehr viele befinden sich in einer Starre zu Beginn nach der Diagnose. Unfähig, klar zu denken, und die Stimmung ist auf Untergang programmiert. Wie gut kann ich das nachvollziehen, da ich vor 13 Jahren ebenfalls in dieser Verfassung war. Aber die gute Nachricht ist, dieses Tief geht vorbei! Es dauert und muss im wahrsten Sinne des Wortes verarbeitet und verdaut werden. Erst nachdem man diese Phase durchlaufen hat, geht es stimmungsmäßig bergauf. Zumindest in den meisten Fällen. Leider gibt es auch eine kleine Anzahl von MS-Betroffenen, die keinen guten Verlauf haben und schnell Hilfsmittel benötigen. Aber es sind etwa 5-10% davon betroffen und das werde ich Euch jetzt genauer erklären: den Krankheitsverlauf.

      Die Multiple Sklerose verläuft bei etwa 2-5 % mit zu Beginn schneller Verschlechterung und führt somit zu schwereren Behinderungen. Aber die gute Nachricht ist, dass bei Beginn der Krankheit 80-90 % einen schubförmigen Verlauf aufweisen. Und nur etwa 20-40 % gehen nach 10-15 Jahren in den sekundär chronischen Verlauf über. Ein primär progredienter Verlauf trifft auf etwa 5-10 % der MS-Patienten zu. Bei dieser Form beginnt die Krankheit schleichend und ohne Schübe, beziehungsweise man spricht von aufgesetzten Schüben. Keine leichte Verlaufsform. Sie stellt oft für den Betroffenen und seine Angehörige eine Belastung dar, denn hier ist der Krankheitsverlauf tatsächlich unvorhersehbar und es gibt so gut wie keine Behandlungsmöglichkeiten.

      Ich lernte im Laufe der Jahre eine Menge Menschen mit schubförmigem Verlauf kennen, die kaum etwas von der Krankheit mitbekommen. Sie haben mit einer Basistherapie, z.B. einem Interferon, begonnen und sind seit Jahren oder über Jahrzehnte stabil. Andere, wie ich, entwickelten einen hochaktiven schubförmigen Verlauf und entschieden sich dann zur Eskalationstherapie. In meinem Fall wurde ich drei Jahre mit Tysabri (Natalizumab) behandelt. In dieser Zeit reduzierte sich die Schubaktivität drastisch, doch nach dem Absetzen, da der Verdacht einer PML (progressive multifo­kale Leukenzephalopathie - siehe Kapitel 15) gegeben war, entwickelte sich meine MS zu dem sekundär chronisch progredienten Verlauf. Ich habe es aber bis heute nie bereut, mich für diese Therapiemedikation entschieden zu haben.

      5. Was sind entzündliche Herde?

      In der weißen Substanz von Gehirn und Rückenmark findet man bei der MS typische Veränderungen, die man Herde oder Plaques nennt. Diese entstehen durch Entzündungen, die das Nervengewebe (die Myelinschicht) angreift. Diesen Prozess nennt man Demyelinisierung (Entmarkung einzelner Nervenfasern). Dadurch werden die Signale oder Befehle unvollständig übertragen. Es kommt zu diversen Symptomen.

      Wer tiefer in diese Prozesse eintauchen möchte, findet hier weitere detaillierte Erklärungen:

      Das Myelin um die Nervenfasern wird bei der MS als "körperfremd" gesehen und das führt zu Entzündungen im ZNS. Man bezeichnet diese Krankheit als Autoimmunerkrankung, da sich das Immunsystem gegen körpereigene Zellen oder Gewebe richtet. Im Fall der Multiplen Sklerose, gegen das Nervengewebe. Die verantwortlichen Zellen sind die sogenannten T-Lymphozyten (T-Zellen), die nicht nur auf körperfremdes, sondern auch auf körpereigenes Gewebe reagieren und hindern, dass die für die Entzündung verantwortlichen Zellen ins Gehirn eindringen. Normalerweise unterliegen solche Zellen im Körper einer Kontrolle durch bestimmte Mechanismen, die eine Selbstzerstörung des Gewebes verhindern.

      Trotz allem können T-Effektorzellen und Antikörper entstehen, die körpereigenes Gewebe angreifen und dann, wie bei der Multiplen Sklerose, zu einer Autoimmunkrankheit führen.

      Die Effektorzellen reagieren auf sogenannte Autoantigene, bei der MS handelt es sich wahrscheinlich um ein Myelinprotein. Durch Aktivierung der autoreaktiven Zellen kommt es zu einem Entzündungsprozess, in dessen Verlauf sich die Blut-Hirn-Schranke öffnet und sich damit eine vollständige Entzündungsreaktion entwickelt.

      (Quelle: https://www.dmsg.de/multiple-sklerose-infos/was-ist-ms/das-immunsystem/ 14.08.2017)

      6. Wie häufig und Wo tritt die MS auf? Wer ist betroffen?

      In Deutschland leben etwa mehr als 200.000 Menschen mit dieser Erkrankung; weltweit circa 2,5 Millionen Menschen. Die Häufigkeit der MS steigt mit der geografischen Entfernung vom Äquator; sie ist also unterschiedlich auf die Erde verteilt. Am höchsten ist die Erkrankungsrate beispielsweise in Mittel- und Nordeuropa, Norden der USA, Kanada und weiteren Ländern.

      Die Diagnose wird meistens zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr getroffen, doppelt so häufig bei Frauen als Männer. Seltener tritt sie auch bei Kindern und Jugendlichen auf. Nach dem 60. Lebensjahr beginnt die Erkrankung selten.

      7. Wie wird die MS verursacht?

      Immer noch sind die Ursachen nicht geklärt. Man vermutet mehrere Faktoren und forscht in viele Richtungen.

      Eine gute Nachricht: Die MS ist nicht ansteckend. Direkt vererbbar ist die Erkrankung auch nicht, aber es wird eine Prädisposition vermutet. Das heißt, dass Erbfaktoren die Entstehung begünstigen können. Wenn ein Elternteil an MS erkrankt ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit gegenüber Nicht-Erkrankten sehr geringfügig höher, dass die Kinder erkranken. In meiner Selbsthilfegruppe sind leider zwei MS-Mitgliedern, deren Kinder die MS bekommen haben. Es kann natürlich Zufall sein, dass es bei circa 15 Mitgliedern zwei Fälle gibt. Ich persönlich habe bei meinen Kindern und aus vielen Gesprächen mit Mitbetroffenen erfahren, dass man bei schweren Krankheiten oder körperlichen Veränderungen/Beschwerden der eigenen Kinder sofort hellhörig wird und hinterfragt. Haben meine Kinder auch MS? Beim leisesten ähnlichen Symptom, das man selbst hat, vermutet man schnell die selbe Krankheit. Hier hilft nur, die Ruhe zu bewahren und einen Facharzt zu konsultieren. Ich weiß, leichter gesagt als getan. Aber auch in diesem Fall haben sich die Verdachtsmomente als nichtig herausgestellt. Die Steine höre ich noch heute und bei jedem Einzelnen rollen.

      Die Forschung ist auf dem Gebiet der Vererbung sehr rege. Ebenso werden die Einflüsse von Umweltfaktoren, Infektionen im Kindesalter, Vitamin D-Mangel und die Ernährung intensiv in Studien untersucht und unter Wissenschaftlern diskutiert. In alle Richtungen werden die Fühler ausgestreckt und irgendwann wird auch die Multiple Sklerose heilbar sein. Davon bin ich überzeugt; ob ich es noch miterleben werde, sei dahingestellt. Profitieren werde ich nicht mehr davon, eventuell nur in der Symptombehandlung, was mich nicht traurig macht. Das Leben ist eben so, ein Kreislauf, und wir können bzw. sollten Altem nicht nachtrauern. Der Blick nach vorne ist sehr wichtig, was ich schmerzlich lernen musste. Es ist gut so, wie es ist. Nicht besser, nicht schlechter. Eine gewisse Gelassenheit sollte sich jeder mit einer chronischen Erkrankung zulegen. Sonst sind der Verstand und die Gefühle festgefahren und Neues wird blockiert, nicht zugelassen. Und für was würde man noch