Gerd Kramer

Spielball ferner Welten


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      1. Kapitel

      Axel Brink stand vor dem Bildschirm und betrachtete die Grafik, die den Fortschritt des Jobs anzeigte. Wenn keine Probleme auftraten, wäre das Objekt in etwa einer halben Stunde fertiggestellt. Anschließend sollte der gleiche Vorgang bei doppelter und schließlich bei vierfacher Geschwindigkeit wiederholt werden. Verliefen alle Versuche nach Plan, konnte der neue 4-D-Drucker Anfang nächsten Jahres in Serie gehen. Aber die Erfahrungen der Vergangenheit hatten gezeigt, dass stets irgendwelche unvorhersehbaren Probleme auftraten, die den Zeitplan durcheinanderwarfen.

      Brink wandte sich zum Gehen. Dabei fiel sein Blick auf den Tisch neben ihm. Auf der hellen Oberfläche zeichneten sich Konturen ab, die seinen Atem zum Stillstand brachten. Erst Sekunden später begriff er, was er sah: eine Spinne, pechschwarz, größer als eine Hand. Sie starrte ihn an. Er war überzeugt, dass sie ihn mit ihren blutroten Augen fixierte. Aber sie bewegte sich nicht. War sie tot, oder hatte gar jemand eine Attrappe dort platziert, um ihn zu erschrecken? Lebendig oder tot, echt oder unecht. Brink fühlte die Gänsehaut auf seinen Armen, und Angst und Ekel lähmten ihn. Seine Schwester hätte vermutlich kein Problem damit gehabt, das Tier an einem der acht behaarten Beine zu fassen und nach draußen zu befördern. Als Biologin war sie in der Hinsicht klar im Vorteil. Aber vor dem riesigen Exemplar hätte vielleicht auch sie Respekt gehabt.

      Brinks erster Impuls war, auf der Stelle die Flucht anzutreten. Aber die Spinne hatte ihn auf unerklärliche Weise in ihren Bann gezogen. Irgendetwas an ihr stimmte nicht. Abgesehen von ihrer Größe sah sie ein wenig zu perfekt aus, um echt zu sein. Für einen Moment dachte er, es tatsächlich mit einer Attrappe zu tun zu haben, und der Ekel ließ nach. Er wagte einen Schritt in ihre Richtung, um im nächsten Augenblick zurückzuschrecken. Sie hatte sich bewegt! Sie war sogar auf ihn zugekrabbelt, als wollte sie ihn angreifen. Am Tischrand hielt sie inne. Er ging einen Schritt rückwärts. Selbst wenn sie wie eine dieser Springspinnen springen könnte, würde sie ihn nicht erreichen.

      Er nahm sein Smartphone aus der Gesäßtasche, ohne den Blick von dem Monster zu wenden. Bevor er es – wie auch immer – wegschaffte, wollte er es fotografieren, allein, damit niemand seinen Bericht über die Riesenspinne anzweifeln konnte, falls sie echt war und es ihm nicht gelang, sie einzufangen.

      Brink ging um den Tisch herum, um eine passende Position für die Aufnahme zu suchen. Er war sich fast sicher, dass die Augen ihn verfolgten. Nur mit Mühe gelang es ihm, den gewünschten Ausschnitt einzustellen, fast so, als würde er die Fotofunktion das erste Mal benutzen. Mit zittriger Hand drückte er auf den Auslöser. Dann steckte er das Gerät wieder in die Hosentasche und tastete hinter sich nach dem Türgriff. Sekunden später stand er im Flur und atmete tief durch.

      „Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“, fragte Stefan Herzog. „Dein Gesicht ist weiß wie eine Wand.“

      „Äh – eine Spinne. Da drinnen.“

      Herzog lachte. „Eine Spinne? Du bist ein echter Held.“

      „So ein riesiges Exemplar hast du noch nicht gesehen.“ Brink versuchte, seiner Stimme einen gleichgültigen Ausdruck zu verleihen.

      „Hast du sie plattgemacht?“

      „Nee. Ich werde mal ein Gefäß besorgen. Vielleicht kannst du …“

      „Okay. Beeil dich. Ich hab noch etwas anderes zu tun, als Spinnen zu fangen. Das Angebot an die Australier muss heute noch raus. Die wollen vier Stück vom Modell C1 bestellen.“

      „Bin gleich wieder da.“

      Brink eilte den Flur entlang und öffnete die Stahltür zur Werkstatt. Dort fand er, was er suchte. Nach wenigen Minuten kam er mit einem Glaszylinder und einem passenden Deckel zurück.

      Stefan hatte nicht im Flur auf ihn gewartet. Brink öffnete die Tür zum Druckerraum, das Gefäß unter den Arm geklemmt. Als er den Raum betrat, fixierte er sofort die Stelle auf dem Tisch, an der er die Spinne gesehen hatte. Das Tier war verschwunden. Aus den Augenwinkeln heraus sah er etwas am Boden liegen. Der Glaszylinder entglitt ihm und fiel scheppernd auf die Steinfliesen. Sein Freund und Partner lag regungslos zwischen den Chemiefässern. Brink zog ihn an den Füßen hervor und kniete sich neben ihm nieder. Er erwischte sich dabei, dass er eine Sekunde lang nach der Spinne Ausschau hielt, als glaubte er, sie hätte den Kollegen angegriffen, und er selbst könnte das nächste Opfer sein.

      Brink griff nach seinem Handy, wählte die 112. Hektisch gab er die Adresse durch, kümmerte sich aber nicht um die Fragen und Anweisungen des Gesprächsteilnehmers, sondern ließ das Gerät fallen und begann mit der Herzdruckmassage. Den Brustkorb hundertmal pro Minute fünf Zentimeter eindrücken! Hundertmal, wie nach dem Takt des Liedes „Stayin’ Alive“, das hatte er irgendwo gelesen. Wie war die Melodie, der Takt? Tausendmal gehört, aber gerade jetzt konnte er sich nicht erinnern. Er legte die Hände übereinander und drückte fest zu. Er glaubte, ein Knacken zu hören. Vielleicht hatte er seinem Freund eine Rippe gebrochen. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Wo blieb der Notarzt?

      „Verdammt! Stefan, wach auf!“, schrie er.

      Aber Stefan Herzog war tot.

      Fast gleichzeitig mit dem Rettungswagen trafen ein Streifenwagen und der Notarzt ein. Dieser diagnostizierte zunächst Herzversagen, kreuzte aber nach eingehender Untersuchung „unklare Todesursache“ im Formular an, was zwangsläufig die Kriminalpolizei auf den Plan rief.

      Noch am selben Tag erschien Hauptkommissar Graf, ein auffallend kleiner Mann mit graumelierten, dunkelblonden Haaren und einem Schnäuzer.

      „Sind Sie in Ordnung?“, fragte er, nachdem beide in Brinks Büro Platz genommen hatten. „Können Sie mir erzählen, was passiert ist?“

      Brink nickte. Obwohl er kaum in der Lage war, klar zu denken, versuchte er, den Vorfall, so gut er konnte, zu schildern. Der Kommissar hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen.

      „Herr Herzog war Ihr Partner?“, fragte er.

      „Ja. Er hat sich in letzter Zeit hauptsächlich um den Vertrieb und andere geschäftliche Dinge gekümmert.“ Brink seufzte.

      „Was produziert Ihre Firma?“

      „Wir entwickeln 4-D-Drucker, passen sie den Bedürfnissen unserer Kunden an und verkaufen sie in kleinen Stückzahlen.“

      „Wie viele Mitarbeiter haben Sie?“

      „Zwei Vollzeitkräfte in der Werkstatt und eine Aushilfe, die den Bürokram erledigt. Aber in unserer Produktion im Industriegebiet beschäftigen wir weitere acht Vollzeitkräfte. Stefan und ich haben die Firma direkt nach dem Studium gegründet. Das notwendige Kapital haben wir über Crowdfunding eingesammelt.“

      „3-D-Drucker sind mir ein Begriff. Aber 4-D-Drucker?“ Graf zuckte mit den Schultern.

      „Mit der Methode können wir sich selbst verformende Objekte herstellen. Sie sind aus unterschiedlichen Materialien zusammengesetzt und reagieren auf Umwelteinflüsse, wie Feuchtigkeit, Vibrationen, Schall, Wärme oder Licht. Sich selbst anpassende Textilien wären ein Beispiel, aber auch Autoreifen, deren Profil von den Temperatur- und Straßenverhältnissen abhängt. Mit der vierten Dimension ist die Zeit gemeint, in der solche Veränderungen erfolgen. Man kann mit ähnlicher Technik sogar organisches Material wie Augenzellen, Haut und ganze Herzklappen herstellen. Aber das fällt unter den Begriff ‚Bioprinting‘. Damit beschäftigen wir uns nicht.“

      „Eine Spinne könnten Sie also nicht erschaffen?“ Graf grinste.

      „Nein. Ich würde jetzt gerne gehen. Der Tod meines Freundes hat mich tief getroffen, und zum Scherzen bin ich nicht aufgelegt“, antwortete Brink verärgert.

      Der Hauptkommissar nickte, was offenbar eine Entschuldigung ausdrücken sollte. „Wir haben den Raum abgesucht, aber keine Spinne gefunden.“

      „Dann muss sie entkommen sein. Durch den Türschlitz oder den Lüftungsschacht.“

      „Sind Sie ganz sicher …?“

      „Sie ist da gewesen! Ich hab sogar ein Foto.“ Brink zückte sein Smartphone und zeigte dem Kommissar das Bild.

      „Wirklich ein besonders großes