Karl Olsberg

Flucht aus der Würfelwelt


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er dann?“

      „In einer Spezialklinik. Er … sein Gehirn wurde bei dem Koma möglicherweise … beschädigt. Sein Arzt Dr. Johannsen sagt, es gibt eine gute Chance, dass er wieder völlig gesund wird, aber er muss noch eine Zeitlang dort bleiben.“

      „Kann ich ihn sehen?“

      „Dr. Johannsen hält es für besser, wenn er ein paar Tage allein ist. Er hat es mir so erklärt, dass Markos Gehirn erst wieder lernen muss, sich in seinem Körper zurechtzufinden. Dazu braucht es eine möglichst reizarme Umgebung, wie er es genannt hat. Keine Störungen, keine Aufregung, kein Besuch. Er hat versprochen, mir mitzuteilen, sobald ich Marko besuchen kann.“

      Die Enttäuschung fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube.

      „Aber ich muss ihn sehen!“, sagt Amelie, obwohl sie weiß, dass es lächerlich klingt.

      „Ich verstehe dich ja. Er war auch sehr enttäuscht, dass du nicht in der Schule warst. Aber glaub mir, es ist besser, wenn er noch eine Weile die Chance hat, zu sich selbst zu finden.“

      „Was meinen Sie damit? Was ist denn nur mit ihm los? Als wir miteinander chatteten, hatte ich das Gefühl, es geht ihm gut.“

      Frau Leyenbrink zögert einen Moment, bevor sie antwortet.

      „Ich weiß, dass er dir vertraut, Amelie. Deshalb vertraue ich dir auch und sage dir etwas, das niemand sonst wissen darf: Marko leidet unter Halluzinationen. Er … er sieht Dinge, die nicht da sind. Figuren aus seinem Lieblingscomputerspiel.“

      Amelie hat schon von dem Spiel gehört. Fast alle an ihrer Schule spielen es. Sie selbst hat sich allerdings nie viel aus Computerspielen gemacht.

      „Er sieht Wesen aus einem Spiel?“

      „Ja, so hat er es mir erklärt. Komm mit, ich zeig dir etwas.“

      Sie führt Amelie in Markos Zimmer. Auf einem Schreibtisch steht ein Laptop, daneben türmen sich DVDs und Spieleverpackungen. Frau Leyenbrink deutet auf ein Poster an der Wand mit einem merkwürdigen grünen Kastenwesen darauf.

      „Vor ein paar Tagen kam er ganz aufgeregt zu mir und hat mir gesagt, dass das Wesen dort plötzlich verschwunden war“, erklärt Markos Mutter.

      „Verschwunden?“

      „Für ihn sah es so aus, als sei das Plakat leer, bis auf den grünen Hintergrund, das Logo des Spiels und diesen Spruch. Er hat mich gebeten, mitzukommen und es mir anzusehen. Als wir dann hier in seinem Zimmer standen, war alles wieder normal.“

      „Kann er sich nicht einfach getäuscht haben? Vielleicht hatte er einen Alptraum oder so.“

      „Ja, das hab ich auch gedacht. Aber dann hat er mir von weiteren Halluzinationen erzählt. Es gab Vorfälle in der Schule. Er hat zwei Jungs verprügelt, weil er dachte, sie seien Monster. Da wusste ich, dass es stimmt.“

      „Das was stimmt?“

      „Was Dr. Johannsen mir gesagt hat. Er ist Psychiater. Er hat Marko im Krankenhaus besucht, und dann war er hier und hat mit ihm gesprochen. Anschließend hat er mir mitgeteilt, dass Marko höchstwahrscheinlich unter Halluzinationen leidet. Ich wollte es erst nicht glauben, aber schließlich musste ich einsehen, dass er recht hat.“

      Amelie hat ein merkwürdiges Gefühl im Bauch. Irgendetwas stimmt hier nicht. Sie starrt auf das Poster, als könne der Kriecher ihr verraten, was los ist. Dann fasst sie einen Entschluss.

      „In welcher Klinik ist Marko?“

      „In der Edgar-Johannsen-Privatklinik für Neuropsychiatrie. Warum möchtest du das wissen?“

      „Ich möchte gern mit diesem Dr. Johannsen sprechen.“

      „Das verstehe ich, aber ich fürchte, es wird nichts nützen. Glaub mir, es fällt auch mir nicht leicht, einfach nur hier zu sitzen und zu warten, bis es ihm besser geht. In den ersten Tagen hab ich es nicht ausgehalten und bin zu meiner Schwester gefahren. Ich telefoniere jeden Tag mit Dr. Johannsen. Er ist ein guter Arzt, da bin ich sicher, auch wenn er einen etwas merkwürdigen Eindruck macht. Er sagt, dass es Marko jeden Tag ein bisschen geht. Bald werden wir ihn besuchen können.“

      Auch Ärzte können lügen, denkt Amelie, doch sie spricht es nicht aus. Stattdessen sagt sie: „Ich gehe dann jetzt nach Hause und telefoniere mit meiner Mutter. Vielen Dank, Frau Leyenbrink.“

      „Gern geschehen. Grüß bitte deine Mutter von mir.“

      „Das mache ich.“

      5.

      Aus purem Frust fange ich an zu graben. Nach kurzer Zeit stoße ich auf Grundstein. Probehalber dresche ich ein paar Mal mit meiner Eisenspitzhacke darauf ein, doch wie erwartet hat das keinen Effekt. Die Welt, in der ich mich befinde, scheint den normalen Regeln des Computerspiels zu gehorchen. Ob ich wohl auch die berühmte Schlusssequenz zu sehen bekomme, wenn ich den Drachen besiege?

      Die Erkenntnis trifft mich wie ein Blitz. Natürlich, das ist es!

      Als ich das erste Mal durch die Würfelwelt irrte, wusste ich zu Anfang nicht, wer ich bin. All die merkwürdigen Dinge und Wesen, denen ich begegnet bin, waren dazu da, mir bei meiner Erinnerung zu helfen. Zum Schluss hat mir der Drache geholfen, indem er meinen Geist quasi in meinen Körper zurückgeflogen hat, und ich konnte aufwachen. Diesmal ist es anders: Ich bin freiwillig in die Würfelwelt geflüchtet. Ich habe auf der Suche nach einem unmöglichen Ding das Auryn gefunden und konnte damit in den Creative Mode wechseln, der mich quasi allmächtig gemacht hat. Das Ergebnis war diese Welt – eine exakte Kopie meiner ursprünglichen Traumwelt. Aber diesmal weiß ich, wer ich bin und wieso ich hier bin, und ich kenne die Spielregeln. Also verhält sich diese Version der Würfelwelt auch so: Alles ist wie im echten Computerspiel. Das bedeutet, ich muss das Spiel bis zu Ende spielen und den Drachen besiegen. Dann erscheint ein Portal, mit dem ich in die Wirklichkeit zurückkehren kann. Das ist doch vollkommen klar! Oder?

      Vielleicht ist es doch nicht so klar. Vielleicht ist meine Theorie absoluter Unfug. Aber es ist einen Versuch wert und allemal besser, als bloß frustriert herumzuirren. Allerdings ist es keine Kleinigkeit, den Drachen zu bekämpfen. Ich habe es erst einmal versucht und bin grandios gescheitert. Damals war es nur ein Computerspiel. Diesmal hängt mein Leben davon ab, dass ich gewinne.

      Die Schlacht mit dem Drachen erfordert eine Menge Vorbereitung. Ich benötige Schattenperlen und Lohenpulver, um daraus Schattenaugen zu machen, mit denen ich ein Endportal lokalisieren und aktivieren kann. Das wiederum heißt, ich muss mich an der Oberfläche mit Schattenmännern herumprügeln und in der Unterwelt mit Lohen. Dann erst folgt der Kampf mit dem Endboss. Zuallererst brauche ich also die bestmögliche Ausrüstung.

      Ich beschließe, die Hütte, die ich am Vortag gebaut habe, als Operationsbasis zu nutzen. Zuerst schere ich ein paar Schafe und crafte ein Bett. Bis zum Sonnenuntergang lege ich mir einen Vorrat von gebratenem Schweinefleisch und Holz an. Die Nacht über schlafe ich im Bett und wache am nächsten Morgen erfrischt auf. Sollte ich unterwegs von einem Kriecher überrascht werden oder in Lava stürzen, werde ich hier spawnen.

      Nun kommt der anstrengende Teil meiner Operation. Ich buddele Gänge, sammele Kohle und Eisenerz, das ich im Ofen schmelze, bis ich genug Eisenbarren für mehrere Vollrüstungen habe. Als nächstes suche ich nach Diamanten. Es dauert eine ganze Weile, bis ich mir daraus ein Schwert und eine Vollrüstung craften kann. Nebenbei finde ich noch allerhand andere nützliche Rohstoffe: Feuersteine für Pfeilspitzen und ein Feuerzeug, Gold und Redstone für einen Kompass und eine Uhr, Smaragde für den Handel mit Dorfbewohnern, falls ich welchen begegnen sollte, Spinnenseide für Pfeil und Bogen und eine Angel.

      Immer wieder muss ich mich mit Zombies, Kriechern, Skeletten, Höhlenspinnen und gelegentlich sogar mit Hexen herumschlagen, die ihre giftigen Tränke nach mir werfen. Doch all das sind keine ernsthaften Gefahren für mich. Das Kämpfen fällt mir umso leichter, je länger ich hier in der Würfelwelt bin. Die Bewegungen meines Kastenkörpers fühlen sich so natürlich an, als wäre es mein echter. Das Einzige, was dieses Gefühl der Realität stört, ist das Fehlen einiger Sinne: Ich kann sehen und