Sylvia Baumgarten

Ein Anfang am Ende des Hungers


Скачать книгу

hört sich zwar ziemlich brav an, aber irgendwie logisch.

      Ich seufze, da klopft es an meiner Tür und noch ehe ich dazu komme, die Seite zu minimieren, kommt Nina ins Zimmer gestürzt.

      „Nina, was machst du denn hier?“, frag ich und weiß nicht, was mich mehr aus der Fassung bringt, dass Nina plötzlich da ist oder dass die „hungrig-Seite“ noch zu sehen ist.

      „Mensch Jule, was ist los mit dir?“, fragt Nina. Unten fällt wieder die Haustür ins Schloss. Meine Mum ist zurück und hat Nina mit reingenommen, denk ich – und dann sitz ich da und starre Nina an.

      „Jule?“, fragt sie, „geht’s dir gut?“

      Geht’s mir gut? Keine Ahnung, wie’s mir geht. Ich dreh mich um und leg die Website ab.

      Nina steht hinter mir und ich hör, wie sie atmet. Komisch, mir ist noch gar nicht aufgefallen, dass Nina beim Atmen leise schnaubt. Erst fang ich an zu grinsen, steigere mich dann in Gelächter und spür plötzlich Tränen – heiß und nass – meine Tränen.

      „Jule, du machst mir Angst“, sagt Nina und genauso klingt sie auch. Ich dreh mich um und seh sie vor mir stehen – verschwommen wie im Nebel – und dann spür ich sie – ihre Arme, ihre Hände auf meinem Rücken und wir heulen beide.

      „Mensch Jule, kann es sein, dass es dir ziemlich scheiße geht?“, fragt Nina irgendwann. Sie lässt mich los, holt Taschentücher und wischt mir durchs Gesicht. Wir stehen auf und setzen uns aufs Bett … und dann erzähl ich Nina alles – von dem Morgen, als meine Lieblingsjeans nicht mehr gepasst hat, von dem Tag danach, als ich aufgehört hab normal zu essen, von dem Zettel mit der hungrig-website von Frau Kramer, von meiner Mum, die keine Gelegenheit auslässt, über meinen Dad herzuziehen und von meinem Dad, der keine Verabredungen mit mir einhält.

      „Dabei hab ich mir echt Mühe gegeben, dass sie sich wieder vertragen. Ich hab für die Schule gepaukt, wie verrückt Gitarre geübt und mich beim Handball reingehängt, damit ich überall immer besser und besser werde, weil ich dachte, sie sind dann stolz auf mich, aber irgendwann hat mein Dad einfach seine Sachen gepackt, und dann ist er weg und meine Mum hat gesagt, dass es so besser ist und dass wir auch alleine klarkommen und jetzt arbeitet sie dauernd und wenn ich sie brauche, ist sie nicht da.“

      Nina sitzt mir gegenüber, im Schneidersitz – wie immer. Aber im Prinzip ist schon lange nichts mehr „wie immer“. Ich hab nen bescheuerten Kloß im Hals und wieder das fiese Brennen in den Augen.

      „Mensch Jule“, sagt Nina und ihre Stimme ist ganz leise, „wieso hast du nichts gesagt? Ich hab doch gemerkt, dass was nicht stimmt, aber du hattest den totalen Panzer um dich rum. Ich bin gar nicht an dich rangekommen und konnte nur zugucken, wie du immer dünner und dünner geworden bist. Weißt du eigentlich, wie schlecht man sich dabei fühlt?“

      Ich schlucke – verdammtes Brennen - wisch mir über die Augen und Nina gibt mir noch ein Taschentuch.

      „Was willst du denn jetzt machen?“, fragt sie und ich spür Panik, weil ich es nicht weiß.

      „Ich hab nicht die Spur einer Ahnung“, sag ich. „Als ich angefangen hab mit der Diät, hab ich mich so schrecklich einsam gefühlt, wie an dem Tag, als mein Dad ausgezogen ist, aber als die ersten Kilos weg waren, war das einfach nur geil, ein Supergefühl, und ich wollte mehr davon. Wenn ich dann mal ne Phase hatte, wo kein Gewicht mehr runter ging, hab ich einfach weniger gegessen oder bin ne Runde mehr gelaufen und irgendwann war das alles ganz normal.“

      „Mensch Jule, guckst du denn nicht in den Spiegel? Du siehst schon richtig gruselig aus – nur noch Haut und Knochen.“

      „Gruselig“ – das hab ich grad schon mal gelesen. Witzig, denk ich, und frag mich, ob ich echt so schlimm aussehe und warum mir das nicht auffällt.

      Es klopft, und ich zuck zusammen, Nina auch. Meine Mum guckt um die Ecke.

      „Ich hab euch Kakao gekocht“, sagt sie, verschwindet kurz und kommt mit nem Tablett und zwei Sheep-World-Tassen zurück: Sie stellt es auf meinen Sofatisch und gibt jeder von uns eine Tasse.

      „Oh danke“, sagt Nina und ich sag:

      „Das ist ja lieb von dir“, und fühl mich wie ne Heuchlerin.

      Einen Moment bleibt meine Mum bei uns stehen. Sie sieht total verlegen aus, und ich wünsch mir, dass sie wieder geht. Macht sie dann auch, und als sie raus ist, gucken Nina und ich uns über unsere Tassen an und ich hab solche Sehnsucht nach Kichern und albern sein, dass es weh tut.

      „Ich muss los, Jule, oder soll ich noch bleiben?“, fragt Nina, als unsere Tassen längst leer sind und wieder auf dem Tablett stehen.

      Ich schüttel den Kopf. „Ist schon ok. Ich glaub, ich muss jetzt sowieso nachdenken.“

      „Echt ok?“

      „Echt ok!“

      Nina steht auf, nimmt mich in den Arm, geht zur Tür, winkt und weg ist sie.

      Die „hungrig-website“ ist noch offen. Ich klick auf „Neu hier“ und fang an, alles zu schreiben, was ich grad Nina erzählt hab. Zum Schluss noch „Danke für’s Lesen! Liebe Grüße, Jule“ und schnell auf senden, damit ich es mir nicht noch mal anders überleg.

      Während ich mich abmelde, frag ich mich, warum ich irgendwie das Gefühl hab, dass ich mich entscheiden muss und hoff, dass Nina mit dem ganzen Müll klarkommt, den ich gerade bei ihr abgeladen hab.

      Aber eigentlich ist Nina total ehrlich, denk ich, die sagt schon, wenn’s reicht – sollte ich vielleicht auch mal machen. Ich seufze zum x-ten Mal und überleg, ob ich runtergeh oder für Mathe lerne, da klopft es schon wieder. Die Tür öffnet sich ganz langsam und meine Mum guckt ins Zimmer wie vorhin.

      „Ist Nina schon weg?“, fragt sie, obwohl sie sicher gehört hat, dass Nina gegangen ist.

      „Seit ner halben Stunde“, sag ich und warte. Meine Mum wartet auch, und dann fragt sie: „Soll ich uns was kochen?“

      Ich guck sie an und denk, ich bin im falschen Film - meine Mum will uns was kochen. Frag mich lieber, ob du mich in den Arm nehmen und festhalten sollst, damit ich in Ruhe heulen kann oder frag mich, ob ich es scheiße finde, dass mein Dad keine Verabredungen mit mir einhält, aber doch nicht, ob du uns was kochen sollst!

      Und dann tut sie mir plötzlich leid, wie sie da steht, und ich bin wieder kurz vorm Heulen, weil ich nicht weiß, ob sie was kochen soll, und weil in meinem Kopf ein Kalorien-Gewitter lostobt, wenn ich mir überlegen muss, ob sie was kochen soll und eigentlich will ich auf keinen Fall, dass sie kocht, weil ich dann was essen muss, und dann sag ich:

      „Gemüse und Kartoffeln vielleicht“, und meine Mum strahlt mich an. Sie nickt, dreht sich um und geht zur Tür, und ich denk, fehlt nur noch, dass sie anfängt zu hüpfen.

      „Ich ruf dich, wenn ich fertig bin“, sagt sie noch und geht raus.

      In meinem Kopf donnert das Gewitter und ich überleg, wie lange ich für Gemüse und Kartoffeln spazieren gehen muss. Krank, denk ich, das ist total krank.

      „Gruselig“ hat Nina gesagt. Kann ja gar nicht sein. Ich steh auf und stell mich vor meinen Schrank mit der Spiegeltür. Haare sind ganz ok – aber … oh – mein – Gott – mein Gesicht! Meine Arme! Meine Beine! Wann ist das denn passiert? Ich schieb die Ärmel von meinem Shirt nach oben und hör Nina sagen: „Nur noch Haut und Knochen“ und weiß, wenn ich mein Hosenbein hochschieb, sehen meine Beine auch so aus. Scheiße, denk ich, das ist gruselig! Und dann ruft meine Mum, und ich weiß, dass ich jetzt Kartoffeln essen muss.

      Ich atme ein, ganz tief, guck noch mal in den Spiegel, dreh mich schnell weg und geh nach unten. Meine Mum gießt die Kartoffeln ab, auf dem Tisch stehen Teller und eine Kerze.

      Flucht, denk ich, raus hier, aber dann fragt sie: „Trinkst du O-Saft?“, und ich sag: „Lieber Wasser.“ Ich setz mich hin und meine Mum gibt mir Kartoffeln und Gemüse.

      „Rührei auch?“, fragt sie und ich