Alfred Bekker

Unmögliche Aufträge: Zwei Thriller


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lag ein Zettel. Der Portier warf einen Blick darauf.

      »Herr Schaake? Hier ist eine Nachricht für Sie.«

      Schaake las die wenigen Wörter, die jemand, vermutlich der Portier, auf das Formular geschrieben hatte.

      TELEFONNOTIZ. Zeit: 20 Uhr 40. Text: Melden Sie sich umgehend in der Wohnung. M.

      Schaake sah auf die Uhr. Es war Viertel vor zwölf. Er knüllte den Zettel zusammen und stopfte ihn in seine Tasche. Er würde sich nicht melden. Er konnte nicht aussteigen, das hatte er eingesehen, aber er würde sich nicht einfach herumkommandieren lassen.

      Aber hatte sich jetzt nicht einiges geändert?

      Sein Album war verschwunden.

      Jutta war tot.

      Zufälle? Musste er nicht mit jemandem reden?

      Mit Urbach würde er nicht sprechen, das kam nicht in Frage. Was war mit Mehrländer? Oder sollte er versuchen, eine Stufe höher zu gehen? Aber wie konnte er Mehrländers Chef erreichen? Diese Leute schotteten sich doch gegenseitig ab. Die spielten ihr Spiel und machten sich gegenseitig vor, von unsichtbaren Feinden umzingelt zu sein. Sie trauten niemandem. Sie würden nicht Ruhe geben, bevor sie jeden bespitzeln und überwachen konnten...

      Er dachte an Professor Hennings. Hennings verfügte über einen Draht zum Bundeskanzleramt. Der Chef des Kanzleramts kontrollierte die Geheimdienste; so in etwa hatte er das, was hin und wieder, meistens im Zusammenhang mit einem Skandal, in der Zeitung stand, in Erinnerung. Natürlich gab es noch einen Parlamentsausschuss, aber der Chef des Bundeskanzleramtes galt als oberster Dienstherr der Geheimdienste, so war es wohl korrekt erinnert.

      Er schloss seine Zimmertür ab und zog die Vorhänge zu, bevor er das Licht einschaltete. Er nahm die Bilder aus seiner Tasche und legte die Fotos, die er nur mitgenommen hatte, um seine Mutter von denen abzulenken, um die es ihm wirklich ging, zur Seite. Die Bilder, auf denen Jochen, Jutta und Rainer zu erkennen waren, stellte er gegen den Fuß der Tischlampe. Er warf sein Jackett auf das Bett und setzte sich vor die Lampe.

      Das Foto mit ihm, Jutta und Rainer stand in der Mitte.

      Er hatte Jutta Derigs gekannt, seit er denken konnte. Ihre Eltern waren die engsten Freunde seiner Eltern gewesen. Dem alten Derigs hatte die Molkerei in Petersdorf gehört.

      Schaakes Vater war Direktor des Wasserstraßenamtes gewesen und als solcher vom Wehrdienst freigestellt. Die Schifffahrt über die Weser und den Mittellandkanal war von kriegswichtiger Bedeutung. Sein Vater hatte ihn und seine Mutter häufig zu Freunden in die Umgebung gebracht, evakuiert, weil jederzeit gezielte Angriffe auf das Wasserstraßenkreuz mit seinen Schleusen, Werften und Hafenanlagen zu erwarten gewesen waren. Doch meistens entluden nur solche Bomber ihre Last über Minden, die im Flaksperrgürtel um Hannover oder Berlin angeschossen worden waren und frühzeitig umkehren mussten.

      Er konnte sich zwar nicht richtig an die Zeit kurz vor Kriegsende erinnern, aber er wusste, dass er bei Derigs in Petersdorf gewesen war, als die Front kampflos über Minden und die Dörfer der Umgebung hinweg rollte, in Richtung Osten. Endlose Lastwagenkolonnen, Jeeps, Gesichter unter tiefgezogenen Stahlhelmen, gesprengte Brücken und weiße Fahnen, die aus Fenstern ragten, hatten undeutliche Spuren in seinem Hirn hinterlassen.

      Er hatte Jutta bewusst erst wiedergesehen, als sie, inzwischen 14 Jahre alt, mit ihren Eltern in die Stadt zog und dort das Lyzeum besuchte. Häufiger sah er sie dann, als sie der Fechtsportabteilung des VfL Minden beitrat und außerordentliches Talent entwickelte. Jochen Heller, Rainer Valtinke und er, Volker Schaake, sie waren damals unzertrennlich. Und obwohl sie erst um die l5, 16 Jahre alt waren, gehörten sie schon zu den Stars des Vereins.

      Jochen und Rainer verliebten sich unsterblich in Jutta...

      Er betrachtete ihr Gesicht, das zu breit war, um im klassischen Sinn als schön bezeichnet werden zu können. Ihr helles Haar war sehr lang. Er konnte sich erinnern, dass sie damals noch Zöpfe trug, dass sie diese aber auflöste, wenn sie sich mit ihnen traf. An die Farbe ihrer Augen konnte er sich nicht mehr erinnern. Auf dem Schwarzweißfoto sahen sie groß und klar und hell aus. Sie hatte einen sehr schönen, geraden Hals. Er konnte die Kuhle zwischen dem Schlüsselbein und dem Halsansatz erkennen, und den Rand einer Bluse mit rundem Ausschnitt. Ihr Mund lachte und zeigte dabei schimmernde Zähne. Jutta hatte viel gelacht, wenigstens damals noch, bevor Jochen in die DDR ging, ihr Verhältnis mit Rainer ernster wurde, und ihre Eltern alles daransetzten, es auseinanderzubringen. Schaake fragte sich, wie der alter Derigs es geschafft haben mochte...

      Plötzlich schmerzte es ihn, in dieses Gesicht mit dem unbeschwerten Lachen zu sehen. Er drehte es herum. Er spürte einen Kloß im Hals, und er wischte sich mit dem Handrücken über die brennenden Augen. Warum hatte sie sich umgebracht? Was war mit ihr geschehen?

      Und was war mit Jochen geschehen? Wie wurde ein Mensch Spion? Das war doch kein Beruf, den man ergriff, einfach so. War Urbach ein Spion? Georg? Mehrländer? Hatten sie dieses Handwerk gelernt?

      Sie waren Beamte. War Jochen auch Beamter? Was hatte Mehrländer gesagt? Er ist Major... Jochen war also Soldat, oder er würde sich zumindest als solcher verstehen. Er hatte mit Jochen nie über Politik gesprochen, er konnte sich jedenfalls nicht an solche Gespräche erinnern. Damals sprach man einfach nicht über Politik, nicht einmal im Wahlkampf. Oder waren sie noch zu jung gewesen? Damals wurde man ja erst mit 21 Jahren volljährig, aber das war wohl kaum der Grund gewesen. Nein sie waren einfach zu jung gewesen. Und worüber hätte man denn sprechen sollen und können? Der Wehrdienst war einige Zeit ein Thema gewesen, und die meistern seiner Freunde waren entschlossen, den Wehrdienst zu verweigern, weil sie sich als Pazifisten verstanden hatten. Aber als sie herausfanden, dass die meisten damals noch gar nicht eingezogen, ja, nicht einmal gemustert wurden, weil es noch nicht genug Kasernen und Ausbilder gab, vergaß man die Bundeswehr erst einmal. Sie waren politisch indifferent gewesen. Ihnen war nicht bewusst geworden, was um sie herum an Veränderungen geschah. Ihre Lehrer hatten heikle Themen ausgespart. Im Geschichtsunterricht wurden die alten Griechen und Römer sehr ausgiebig behandelt, ihre Staatsformen, ihre Theorien zur Demokratie. Von der Gegenwart hielt man sich weit entfernt, man kam nicht einmal in der Oberstufe näher als bis auf fünfzig Jahre an sie heran.

      Die DDR war ohnehin kein Thema, über das man sprach. Es gab auch kaum einen Grund, über sie zu sprechen, jedenfalls nicht für die jungen Leute. Es bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass dieser Staat zu Unrecht bestand, dass er gar keiner war, und niemand zweifelte daran, dass die Politiker in Bonn die Wiedervereinigung sehr ernsthaft betrieben. Das Regime, davon war man überzeugt, würde zusammenbrechen, wenn die Russen irgendwie gezwungen würden, ihre schützende Hand von ihm abzuziehen.

      Als Jochen ihm dann eröffnete, er wolle nach drüben gehen, das Wort DDR hatte sich im Sprachgebrauch noch lange nicht eingebürgert, man sagte noch Ostzone oder Zone, war er einige Zeit fassungslos gewesen. In die Ostzone ging man doch nicht...

      Schaake versuchte, die Erinnerung an das Gespräch aus der Versenkung heraufzubeschwören. Jochens Mutter war erst zwei Wochen tot, und Jochen hatte jeden Tag ihr Grab besucht. In der Zeit war er immer verschlossener geworden. In der Nacht, als Jochens Mutter gestorben war, hatte Volker Schaakes Vater Jochen vom Krankenhaus abgeholt und ihn einfach mitgebracht. Sie bewohnten damals eine große Dienstvilla, wo sie Platz genug hatten. Es hatte sich dann einfach ergeben, dass Jochen bei ihnen blieb, und das Vormundschaftsgericht hatte seine Einwilligung gegeben.

      An jenem Abend waren sie zusammen zum Friedhof gegangen. Jochen und er hatten lange auf der Bank gesessen und auf den Hügel gestarrt, bis die Dämmerung die Farben der Blumen verschwimmen ließ. Im Dunkeln hatte Jochen dann von seinem Onkel erzählt, der drüben lebte und dem es ganz gut ginge, und der ihm geschrieben und ihm angeboten hätte, herüberzukommen und dort zu studieren. Das Land brauche junge Männer, die bereit seien, etwas zu leisten und sich der Herausforderung für eine neue Gesellschaft zu stellen.

      So etwa hatte Jochen es dargestellt. Hatte sein Entschluss, in die DDR zu gehen, da schon festgestanden? Oder gab es etwa ein Schlüsselerlebnis, etwas, das den Entschluss ausgelöst hatte, oder ihn endgültig werden ließ? Oder hatte es mit Jutta zu tun? Jochen wusste genau, dass er von ihren Eltern niemals akzeptiert werden